Fritz J. Raddatz: „Bestiarium der deutschen Literatur“

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Eine Anthologie schreibender Tierarten frei nach Brehm

Die ältere Generation kennt noch sehr gut „Brehms Tierleben“, ein Buch über die Tiere der Welt, aus dem der Vater gerne am Sonntag vorlas – Fernsehen gab es noch nicht oder der Zugang war sehr eingeschränkt – oder das er Kinder zur Erbauung und Belehrung empfahl. Der Literaturkritiker und Autor Fritz J. Raddatz, einst Cheflektor beim Rowohlt-Verlag und dann jahrelang Feuilleton-Leiter der „ZEIT“, galt und gilt immer noch als „enfant terrible“ der Literaturszene, vornehmlich in seiner Funktion als Kritiker. Da er offensichtlich auch im Unruhestand – er ist mittlerweile 81 Jahre alt – nicht von der Literaturkritik lassen kann, hat er ein altes literatursatirisches Projekt wieder aufgenommen und aktualisiert.

Im Jahr 1922 veröffentlichte Franz Blei im Rowohlt-Verlag „Das große Bestiarium der Literatur“, in dem er zeitgenössische Literaten in durchaus satirischer Form als Vertreter bestimmter Tiergattungen vorstellte, die natürlich irgendwie den Charakter des jeweiligen Autors seiner – Bleis – Meinung nach widerspiegelten. Raddatz hat dieses Konzept auf die Literaturlandschaft des letzten halben Jahrhunderts angewandt und dabei wie auch schon Blei in Text und Gestaltung Brehms Tierleben imitiert. Alfred Edmund Brehm hatte jedem Tier einen Text und eine liebevoll detaillierte Grafik gewidmet, die das jeweilige Tier in seiner Lebensumgebung zeigte. Bei dem vorliegenden Buch hat Klaus Ensikat die Illustrationen beigesteuert, während der Autor die jeweiligen intellektuellen Tiere lustvoll-satirisch seziert bzw. dekonstruiert.

Das Buch ist alphabetisch geordnet und führt die einzelnen Tiere – mit ganz naivem Augenaufschlag – mit einer üppigen und anspielungsreichen Grafik sowie ihrem (Nach-)Namen ein, gerne auch mit einer lateinischen Bezeichnung, die sich dem Leser jedoch ohne gründliche Exegese des jeweiligen Begriffs nicht sofort erschließt. Raddatz setzt hier also schon eine entsprechende Bildung voraus. Wer jedoch glaubt, die lateinischen Bezeichnungen seien frei erfunden, irrt, denn Raddatz bleibt auch bei der Zuordnung zu Tieren im Rahmen gesicherter Erkenntnisse.

Das Buch beginnt mit „Achternbusch, da alphabetisch kaum ein lebender Autor ihn übertreffen dürfte, und endet mit Julie Zeh. Dazwischen reiht sich die ganze illustre Schar zeitgenössischer oder noch nicht lange verschiedener Literaten wie Perlen auf einer Kette aneinander. Achternbusch ist bei Raddatz ein laut krähender „bayerischer Gockel“, Ingeborg Bachmann ein Totenkopfschwärmer, der wie betrunken auf Lichtfallen reagiert und von einem Schweizer Spezialisten eingefangen wurde. Hier ballt sich Biographisches. Thomas Bernhard kommt als bösartiger und Angst verbreitender Totenvogel daher, Wolf Biermann als zirpende, aber giftige Raupe. Das „Böll“ assoziiert Raddatz mit langem Gähnen(!), Enzensberger erklärt er zum evolutionären Rätsel. Dem Großen Pandabären Frisch (Max) bescheinigt er hohe Paarungsfrequenz (siehe Bachmann) und der Aalart Grass bescheinigt er neben barock gewundenen Bewegungen einen pestilenzartigen Geruch aus einer rötlichen Wolke. Das ist teilweise schon deftige Satire.

Das Habermas hat seinen Namen laut Raddatz vom bayerischen „Ha´mer a Mas“, seine Laute verstehen jedoch bis heute selbst Wissenschaftler nicht. Die Beschreibung des „Handke“ ist eher rätselhaft und erfordert wohl tiefschürfende Lektüre, dem Härtling werden Gewebe wie Handarbeit aus dem 19. Jahrhundert zugeschrieben. Das Hermlin aus der Gattung der Schwäne lobt mit lauten Schreien vorrangig sich selbst, und der Hochhuth ist ein starrsinniger Papierwurm, der zahlreiche Bibliotheken befallen hat.

In diesem Stil geht es weiter über Jelinek und Johnson, Kempowski und Kehlmann, Lewitscharoff und Lenz, Mosebach und Mayröcker, Süßkind und Suter bis zu Walser, Wohmann und schließlich Zeh. Dabei geht Raddatz mit biologischem Vokabular satirisch auf die menschlichen und literarischen Eigenarten der einzelnen Autoren ein. Um alle Anspielungen zu verstehen, erfordert es eine literarische Bildung, über die nur ein Literaturkritiker des Formats von Fritz J. Raddatz verfügen dürfte. Auch Reich-Ranicki dürfte an diesem Buch seine Freunde haben, ist er doch – als Kritiker – nicht dessen Gegenstand. Auch wenn man nicht alle literarischen, psychologischen, biographischen und gesellschaftspolitischen Anspielungen versteht, bereitet allein schon der scheinbar behäbige Biologenstil mit seinen pointierten Bemerkungen viel Spaß. Außerdem kann es – mit Hilfe von iPhone und Google – für den Leser zur spannenden Herausforderung werden, die einzelnen Sottisen und Seitenhiebe wähend der Lektüre zu verorten. An die Arbeit!

Das Buch „Bestiarium der deutschen Literatur“ ist im Rowohlt-Verlag erschienen, umfasst 138 Seiten und kostet 19,95 €.

Frank Raudszus

 

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