Die Kammerspielen des Staatstheaters Darmstadt bringen Benjamin Lauterbachs Einakter „Der Chinese“ auf die Bühne

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Harald Schneider (Der Chinese), Christina Kühnreich (Mutter Gwendolyn), Margit Schulte-Tigges (Tochter Maria-Lara), Klaus Ziemann (Sohn Niclas), Andreas Vögler (Vater Alexander)
Die Wagenburg des korrekten Lebens  

Die Kammerspielen des Staatstheaters Darmstadt bringen Benjamin Lauterbachs Einakter „Der Chinese“ auf die Bühne
Die „politische Korrektheit“ in all ihren Ausprägungen hat in Deutschland Hochkonjunktur. Wir haben nicht nur die Atomkraftwerke abgeschaltet (oder tun es demnächst) und das Rauchen (fast) flächendeckend verboten, sondern trennen auch unseren Müll, ächten Plastikspielzeug und vermeiden ängstlich alle Bezeichnungen, die eventuell diskriminierend wirken könnten. Hier und da sind auch bereits Forderungen zu hören, gefährliche Sportarten und den Alkoholgenuss zu verbieten, um die Gesundheitskosten im Griff zu behalten.

Harald Schneider (Der Chinese), Christina Kühnreich (Mutter Gwendolyn), Margit Schulte-Tigges (Tochter Maria-Lara), Klaus Ziemann (Sohn Niclas), Andreas Vögler (Vater Alexander)Der junge Autor Benjamin Lauterbach, der im Berliner Bezirk Prenzlauer Berg wohnt, ist dort in besonderem Maße mit dem Phänomen der „korrekten Lebensführung“ konfrontiert – Stichwort „Latte-Macchiato-Mütter“  – und hat es in seinem Theaterstück „Der Chinese“ in satirischer Form verarbeitet. Schauspieldirektor Martin Apelt sah darin zu Recht einen treffenden Zeitkommentar und sicherte dem Staatstheater die Uraufführungsrechte. Andrea Thiesen übernahm die Regie und setzte dabei noch einige Pointen.

Das Stück spielt im Haus einer vierköpfigen Familie irgendwann in der nicht zu fernen Zukunft. Schon die Einrichtung ist nachhaltig bis ins Mark: sie besteht aus zwei Holzwänden – Kunststoff ist absolut verpönt -, aus denen die Möbel zur jeweiligen Nutzung herausgezogen werden, wobei sich die wohl ungewollte makabre Komik ergibt, dass die Betten der Kinder ein wenig an die Schübe in der Rechtsmedizin erinnern. Die Eltern (Christina Kühnreich und Andreas Vögler) tragen adrette, ordentliche, aber nicht modische Frisuren. Die Regie lässt sie per Perücke erblonden, was wohl als verstecktes historisches Zitat zu verstehen ist. Die kleine Tochter trägt – siehe oben – lange blonde Zöpfe und ihr etwas älterer Bruder ebenfalls eine blonden Haarschopf. Kerstin Junge, zuständig für Bühne und Kostüme, hat der ganzen Familie außerdem eine sandfarbene Einheitskleidung verpasst, die ein wenig an die Kleidung in Maos China erinnert und die Botschaft enthält, dass man in dieser Familie keinem modischen Konsum frönt. Alle vier sind geradezu penetrant lieb und nett zueinander und betonen ununterbrochen, wie glücklich sie miteinander, mit dem Leben und vor allem ihrem Staat Deutschland sind. Bevor noch irgendetwas geschehen ist, beschleicht den Zuschauer das Gefühl, dass hier gut zugerichtete, in artgerechter Bio-Umgebung gehaltene Marionetten agieren, denen man jegliche Authentizität und Persönlichkeit abtrainiert hat.

In diese Bio-Idylle fällt buchstäblich ein Chinese hinein, der von seinem Land geschickt worden ist, um die Gründe und das Erfolgsrezept für das unendliche Glück der Deutschen zu studieren. Er repräsentiert in kompakter Form das Leben in den westlichen Industriestaaten, wie wir es heute kennen und das die heutigen Chinesen anstreben: wirtschaftliches Wachstum, arbeitsteilige Organisation – Vati arbeitet für einen Chef und hat wenig Zeit für die Familie – und Konsumgüter. Der Vater der Vorzeigefamilie arbeitet dagegen als Erfinder zu Haue und kann sich ganz im Sinne heutiger Elternzeitmodelle und Genderkonzepte der Familie widmen. Kurz taucht beim Zuschauer die Frage auf, woher denn dieses Deutschland sein wirtschaftliches Glück bezieht, wenn alle herkömmlichen ökonomischen Konzepte ad acta gelegt worden sind; doch darum geht es in diesem Stück nicht, und darum kann man diese ketzerische Frage getrost hintan stellen.

Harald Schneider (Der Chinese), Christina Kühnreich (Mutter Gwendolyn), Margit Schulte-Tigges (Tochter Maria-Lara), Klaus Ziemann (Sohn Niclas), Andreas Vögler (Vater Alexander)Die zuckersüße Begrüßung des Besuchers aus dem fernen China spart durchaus nicht an selbstgefälligen Hinweisen auf die vor allem ökologische Rückständigkeit des fremden Landes. Die Familie ist sich ihrer haushohen moralischen Überlegenheit so gewiss, dass sie explizites Mitleid fast schon als ihre Pflicht betrachtet. Der Chinese, von Harald Schneider mit hintergründiger Unterwürfigkeit gespielt, akzeptiert seine Unterlegenheit durchaus und lobt das Gastland über den grünen Klee. Doch schon das gemeinsame Essen wird zur ersten Belastungsprobe: erst fasst sich die ganze Familie an den Händen und dankt den Bio-Produkten aus der Region, dass man sie verzehren darf, dann schlägt der Vater den Takt zum gemeinsamen, synchronen Kauen der Speisen, das schließlich auf eine Handbewegung mit dem abschließenden Schlucken endet. Der Chinese schaut konsterniert und leitet unbewusst den nächsten Schock ein. Seine Mitbringsel lassen vor allem die Ehefrau in Schockstarre fallen: eine sprechende und krabbelnde Plastikpuppe für die entzückte kleine Tochter, ein ferngesteuertes Auto für den Jungen – der Chinese muss dem Jungen erklären, dass es ein „guter Mercedes“ ist, der offensichtlich nur noch in China gebaut und gefahren wird -. eine selbstfahrender Staubsauger für die Ehefrau und ein prächtiger Mantel für den Vater. Das ist vor allem für die Mutter zu viel, die den Kindern in konsequenter Ausmerzung des Konsumterrors gerade noch erklärt hat, dass sie glücklicherweise nie in ein Flugzeug steigen werden.

Mit Mühe bewahren die Eltern die Fassung und überlegen nebenher fieberhaft, wie sie die Geschenke möglichst unauffällig entsorgen können, da naht der finale Schock: Herr Ting, so heißt der Chinese, zieht ein Mobiltelefon aus der Tasche und will offensichtlich seine Ankunft nach China melden, bewirkt jedoch lediglich einen Schreikrampf der Frau, die sich und ihre Famile wegen der Handy-Strahlung bereits an Krebs dahinsiechen sieht. Auch der Vater fordert höchst erregt nicht nur das Ausschalten des Gerätes sondern sogar das Entfernen des Akkus und die Übergabe des „corpus delicti“.

Von diesem Augenbllick geht es den in Panik versetzten Eltern nur noch darum, den Chinesen möglichst schnell loszuwerden, ohne die elementaren Höflichkeitsregeln zu verletzen. Bei den Überlegungen stellt sich heraus, dass der Staat ein allgemeines Glücksmonopol für sich und seine Bürger einfordert und jeden, der Zeichen des Unwillens oder gar des Unglücks zeigt, mit schweren Konsequenzen belegt. Interessanterweise benutzen die beiden dafür nie das Wort „Strafe“, denn so etwas scheint es in der geregelten Sprache nicht zu geben. Ausfallende Belohnungen und „ernste Folgen“ vernebeln den Sachverhalt, bewirken jedoch bei der harmoniesüchtigen Bevölkerung bereits die größten Ängste. Eine eigenständige und eigenverantwortlilche Lebensführung ist in diesem Land nicht mehr vorgesehen; alle haben sich an die glückverheißenden Regeln zu halten und tun es auch geradezu sklavisch.

Als die Eltern die Spielzeuge der Kinder vernichten wollen, ahnen diese die Gefahr und erpressen ihre Eltern in scheinbarer Ängstlichkeit damit, in der Schule zu behaupten, sie seien unglücklich. Diese Drohung muss in einem Land ultimativer politischer Korrektheit und Glücksverheißung für Eltern wie ein Todesurteil wirken und stößt sie in ein unauflösliches Dilemma: unkorrekte Konsumgüter gegen unkorrektes Unglück der Kinder! Das führt zu einer Zerreißprobe, in der die Eltern ihre glückliche Fassade verlieren und in Angst und Aggression verfallen. Vor allem die Mutter vergisst alle politische Korrektheit und trachtet nur noch danach, den Chinesen auf welche Art auch immer – bis hin zur üblen Denunziation – loszuwerden und gleichzeitig der Erpressung durch die Kinder aus dem Weg zu gehen. Plötzlich brechen sich urmenschliche Gefühle, Ängste und auch der Selbstbehauptungswille Bahn. Doch zu einem guten Ende führt das nicht, denn das Land hat seine Bürger längst im Würgegriff der totalen Fürsorge, gegen die aufzubegehren als schweres Vergehen gilt.

Benjamin Lauterbach hat mit diesem Stück eine Tendenz aufgespießt, die sich besonders in gehobenen Schichten immer stärker ausbreitet. Lebensangst und die Abwehr alles Neuen, Unbekannten beherrschen die Gemüter, und man möchte sich gegen alle Eventualitäten des Lebens absichern. Bereitwillig gibt man Eigenständigkeit und Selbstverantwortung hin für einen vermeintlichen Zugewinn an Absicherung. Unter diesem Aspekt werden alle, die auch nur eigene Ideen entwickeln oder einen persönlichen Lebensstil einfordern, zu Gegnern, die es zu eliminieren gilt. Lauterbach überspitzt die Situation zwar in satirisch zulässigem Maße, aber dabei entfernt er sich weniger weit von der Realität als er vielleicht vorgehabt hat. So manchen Satz aus dem Mund der Mutter hat man so oder sehr ähnlich auch schon außerhalb der Theaterwände gehört.

Regisseurin Andrea Thiese hat für das Problem der Kinderrollen eine fast geniale Lösung gefunden. Natürlich können echte Kinder nicht die Doppelbödigkeit und hintergründige Ironie der Situation in dieser Familie wiedergeben. Daher hat sie sich konsequent für das Gegenteil entschieden und zwei Schauspieler in der Nähe des Rentenalters ausgewählt. Margit Schulte-Tigges spielt das kleine Mädchen mit erstaunlicher Kindlichkeit und gleichzeitig mit der Raffinesse kleiner Kinder, die wissen, wie sie die Erwachsenen gegeneinander ausspielen können. Klaus Ziemann gibt ihren Bruder als frühbubertären Bub, der gerne den starken Mann spielt und auch seine kleine Schwester bei Bedarf für seine Zwecke erpresst. Diese Rollenverteilung verleiht den Kinderrollen ein Gewicht, das die Balance des Personentableaus entscheidend verschiebt und einen neuen Spannungsbogen zwischen Eltern und Kindern aufbaut. In den Rollen der Eltern agieren Christina Kühnreich und Andreas Vögler glaubwürdig und ohne die ängstliche Korrektheit zu sehr ins Lächerliche zu verlagern. Harald Schneider spielt den Chinesen mit ungläubigem und gleichzeitig unterwürfigem Staunen.

Man könnte dem Stück durchaus den Gattungsbegriff „Komödie“ zuordnen, denn die Situationen entbehren durchweg nicht einer gewissen Komik. Und wie es sich in einer guten Komödie gehört, bleibt einem das Lachen in der Kehle stecken, weil man hinter jeder Szene die Entmündigung und das marionettenhafte Zappeln der Protagonisten durchschimmern sieht. Wie auch immer, die Inszenierung hat Tempo und gerade die richtige Länge, und der Verzicht auf eine Schlusspointe bekommt dem Stück ebenfalls gut, weil dadurch keine Lösung vorgetäuscht wird.

Das Premierenpublikum zeigte sich angetan von dieser pointierten Satire und spendete kräftigen Beifall.

Frank Raudszus    

 

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