William J. Dobson: „Diktatur 2.0“

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Ein internationaler Streifzug über moderne Diktatur und neue Methoden des Widerstandes

Autoritäre Staaten, auch Diktaturen genannt, haben die Weltgeschichte seit Anbeginn geprägt. Die Demokratie, bereits in der Antike von den Griechen in Ansätzen – Sklaven hatten keine Rechte! – entwickelt und von den Römern eine Zeitlang weitergeführt, fristete im Mittelalter und in der frühen Neuzeit ein kümmerliches Leben und überwinterte nur in England. Ende des 18. Jahrhunderts erwachte sie erst in den USA und dann in einem kurzen Aufflammen in Frankreich wieder zum Leben. Erst ab dem Ende des 19. Jahrhunderts und vor allem nach dem ersten Weltkrieg entwickelten sich die autoritären Monarchien wie Frankreich und Deutschland zu den heute bekannten Demokratien. Viele andere Staaten folgten diesem Modell, viele blieben jedoch dem autoritären, auf Einzelpersonen oder Familien zugeschnittenen Modell treu. Über die Dikaturen des 20. Jahrhunderts brauchen wir hier keine weiteren Worte zu verlieren.

Die arabische Rebellion der letzten Jahre hat die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit erneut auf die verbliebenen – oder neu eingerichteten! – Diktaturen gelenkt. Der US-Journalist William J. Dobson, der für Newsweek International und Foreign Affairs schreibt, ist für seine Recherchen zu dem vorliegenden Buch zwei Jahre lang durch die halbe Welt gereist, um die autoritären Systeme in Russland, China, Ägypten und Venezuela „in situ“ zu studieren und mit Dissidenten zu reden.

Im 20. Jahrhundert war die Welt für Diktatoren noch in Ordnung. Es gab weder Internet noch Mobilfunk, und so ließen sich die in die jeweilige Gesellschaft einfließende Information und ihre Verbreitung einfach kontrollieren. Rundfunksender waren zentral organisiert, und Zeitungen mussten physisch hergestellt und vertrieben werden, was die Überwachung einfach gestaltete. Mit Google, Facebook & Co. sieht die Welt jedoch ganz anders aus, da die Diktaturen ihre „Untertanen“ nicht mehr in Unwissenheit halten können.

Dobson beginnt seine Untersuchung mit Russland, der „lupenreinen Demokratie“. Im Staate Putins läuft mittlerweile fast wie zu alten SU-Zeiten alles nach dessen Willen. Presse, Rundfunk und Fernsehen sind weitgehend gleichgeschaltet, Internet und Mobilfunk werden zensiert bzw. überwacht. Doch im Gegensatz zu klassischen Diktaturen sieht die russische Regierung ihr Legitimitätsproblem. Wegen der heute de facto nicht mehr möglichen totalen Abschottung gegenüber der restlichen Welt lässt sich das Volk nicht mehr beliebig belügen, und auch das Ausland erfährt von den Vorgängen im eigenen Land. Also bemüht sich eine moderne Diktatur vom Schlage Putins zumindest formal um Legitimität. Statt einfach zu herrschen, erlässt man Gesetze, die einem allgemeinen Bedürfnis entsprechen. Das wird jedoch dann zum Problem, wenn sich die Regierung selbst nicht an die Gesetze hält, was natürlich beabsichtigt war. Hier setzen die neueren Dissidentengruppen an. Sie protestieren nicht mehr auf der Straße mit dem Risiko Gewalt zu provozieren, sondern fordern öffentlich die Einhaltung der Gesetze. Dobson zeigt dies am Beispiel einer unpolitischen Hausfrau, die zufällig feststellte, dass durch ein gesetzlich geschütztes Naturschutzgebiet nahe Moskau eine mehrspurige Autobahn gebaut werden sollte. Dieses von verschiedenen hohen Behörden entgegen dem Gesetzestext geplante und genehmigte Projekt war weitgehend geheim gehalten worden, um die Öffentlichkeit vor vollendete Tatsachen zu stellen. Die Frau jedoch machte es publik, ohne die Regierung direkt anzugreifen, und bestand lediglich auf der Einhaltung der Gesetze. Die Resonanz der Bevölkerung war so stark, dass die Behörden das Projekt – vorerst! – stoppten. Man muss jedoch stets damit rechnen, dass der Bau nach einer Gesetzesänderung wieder aufgenommen wird. Doch die beharrliche, gewaltfreie Forderung der Bevölkerung auf der Basis staatlicher Gesetze hat ihre Wirkung entfaltet. Dass die einschlägigen Behörden mit verschiedenen Mitteln versuchten, die Frau zu diffamieren, versteht sich in einem autoritären System fast von selbst. Ist die Gruppe um einzelne Dissidenten jedoch groß genug, so vermeidet auch eine Diktatur zu drastische Maßnahmen.

Obwohl die meisten Dik taturen, so auch Russland, behaupten, nur zum Wohle des Volkes zu agieren, können sie sich nicht auf dessen Zustimmung stützen, eben weil sie es bewusst von jeder Teilnahme ausschließen. Die Absicherung der eigenen Macht muss daher über eine treu ergebene Anhängerschaft – Familie, Partei, Günstlinge – erfolgen, die dafür natürlich Gegenleistungen erwartet. Damit ist der Korruption Tür und Tor geöffnet. Im Falle Russland beschreibt dies ein russischer(!) Politikberater sehr plastisch. Als er bei einem Ausflug als Berater im amerikanischen Wahlkampf nach dem „Medien-Budget“ fragte, verstand er nicht, dass er nur Auskünfte über Gehälter, Reise- und Sachkosten erhielt. Erst nach mehrfachem Nachfragen musste er erstaunt feststellen, dass man in den USA die Medien nicht kaufen konnte.

Auch mit Hu go Chavéz` autoritärem Venezuela hat sich Dobson intensiv beschäftigt. Die Strategie des selbsternannten Staatschefs ist es, den unteren Volksschichten Wohltaten zu versprechen, um sich die Wählerstimmen zu sichern. Auch hier herrscht nicht der blanke Terror Nordkoreas oder etwa des Dritten Reiches, sondern eine subtilere Form, die sich auf dem Boden parlamentarisch beschlossener Gesetze bewegt. Da Chavez Wahlkommissionen und Justiz – als Offizier das Militär sowieso –  unter seine Kontrolle gebracht hat, konnte er die Wahlkreise in seinem Sinne zuschneiden lassen und damit seine Macht sichern. Entsprechende Klagen schmettert die ihm ergebene Justiz ab. Nach außen bleibt jedoch der vordergründige Eindruck eines Rechtsstaats. Da Chavéz jedoch in den einzelnen Provinzen Wahlen zulässt, können immer wieder oppositionelle Lokalpolitiker dank ihrer Nähe zum Volk die Wahlen gewinnen. Daraufhin lässt Chavéz die Zuweisungen der Zentralregierung an die jeweilige Provinz durch entsprechende Gesetze drastisch kürzen, um die Lokalpolitiker zu diskreditieren. Andere Kritiker werden mit fadenscheidigen Anklagen vor Gericht gestellt. Dabei klagt man sie nicht des politischen Terrors oder gar des Widerstands an, was nur die Volksseele zum falschen Kochen bringen könnte, sondern erfindet Steuerhinterziehung oder andere zivil- und strafrechtliche Vorwürfe, die vor allem bei den unteren Schichten den Eindruck erwecken, hier werde an den korrupten Reichen ein Exempel statuiert. Trotz dieser Taktik der Verschleierung autoritärer und zutiefst undemokratischer Maßnahmen verliert Chavéz zunehmend an Zustimmung breiter Schichten, da er seine sozialen Versprechungen nur durch Aufreißen neuer Finanzlöcher erfüllen kann. Auf der anderen Seite wächst der Widerstand von Studenten und Intellektuellen, die die Taktiken des Systems erkannt haben und auf eine gewaltfreie Opposition setzen. Selbst längere Gefängnisaufenthalte aufgrund konstruierter Anklagen können diesen Oppositionellen nichts anhaben, und die Gewaltfreiheit beraubt Chavéz seines Hauptvorwurfs terroristischer Aktivitäten.

Ähnlich lag und liegt der Fall in Ägypten, wo zu Mubaraks Zei ten das Volk nicht zählte und Oppositionelle mit Gewalt bekämpft wurden. Dobson hat eine Reihe von Aktivisten des Widerstands interviewt und von ihnen erfahren, dass nur Gewaltfreiheit für langfristigen Erfolg garantieren kann. Auf dem Gebiet der Gewalt verfügt die Diktatur stets über die größere Erfahrung, Durchschlagskraft und Rücksichtslosigkeit. Die islamistischen Terroristen der neunziger Jahre mit ihren Gewaltakten haben das mit ihrer Niederlage bestätigt. Dagegen haben die Organisatoren des „arabischen Frühlings“ in Ägypten gezeigt, wie man es macht: gewaltlose Proteste gleichzeitig an mehreren, von den Sicherheitskräften schwer kontrollierbaren Orten, vorherige Festlegung von Fluchtwegen und der Versuch, mit Militär und Polizei während und außerhalb der Demonstrationen ins Gespräch zu kommen. Der Sturz Mubaraks war ein großer Erfolg dieser Bewegung, doch das Militär, das in Ägypten die Wirtschaft beherrscht und sich dabei kräftig bereichert, hat eine neue Militärdiktatur dagegen gesetzt, die nur nach außen den demokratischen Schein wahrt. Ägypten hat daher noch einen weiten Weg bis zur echten Demokratie zu gehen, doch wenn die Opposition weiterhin den gewaltfreien, intelligenten Widerstand fortsetzt, sieht Dobson gute Chancen.

China stellt für Dobson die größte und intelligenteste Diktatur dar. Das liegt einerseits an dem rasanten wirtschaftlichen Aufstieg, der den Bürgern wesentlich mehr – wirtschaftliche – Freiheit und Wohlstand als etwa in Ägypten oder Venezuela einräumt, andererseits an der subtilen Unterdrückung, die mit einer technologisch hochgezüchteten Kontrolle des Internet beginnt und mit einer Justiz, die immer neue Anklagepunkte gegen Dissidenten findet, lange noch nicht aufhört. Doch auch hier haben die kommunistischen Kader Angst vor dem Volk, denn große Teile des Volkes leben weiterhin in großer Armut, und während des arabischen Frühlings wurden in geradezu panischer Manier Vorsichtsmaßnahmen gegen eventuelle Proteste der eigenen Bevölkerung getroffen. Für China trifft lauft Dobson das alte Gesetz zu, dass Diktaturen umso gefährdeter sind, je länger sie leben. In jedem autoritären System häufen sich im Laufe der Zeit die Jahrestage von Protesten und missglückten Aufständen und bewegen jedes Mal wieder die Emotionen des Volkes. In China ist dies vor allem der Jahrestag des Massakers auf dem Tianmen-Platz im Juni 1989, das der Führung wie ein Mühlstein um den Hals hängt. Seit Jahren werden an solchen Tagen die Sicherheitsvorkehrungen verstärkt und bekannte Dissidenten prophylaktisch in „Schutzhaft“ genommen. In China gibt es Wissenschaftler, die den autoritären Kurs der Regierung nicht nur als Bürger sondern auch als Experten unterstützen. So bescheinigt ein Professor dem chinesischen System große Vorzüge gegenüber dem westlichen demokratischen System,. weil Entscheidungen viel schneller getroffen werden könnten. Ausdrücklich bescheinigt er dem chinesischen Führungskonzept, dass es gegenüber den auf Konsens ausgerichteten westlichen Demokratien den Aspekt der Verantwortung betone, die nur ein autoritäres System wahrnehmen könne.

Doch auch in China gibt es nach Dobson längst eine gewaltfreie Protestszene, die sich die inhärenten Schwächen des Systems – u.a. der Wunsch nach Legitimität – zunutze macht. Als Beispiel nennt er einen Aufruf über Facebook, die zu „Stadtbummeln“ zu einem bestimmten Zeitpunkt an bestimmten Orten in mehreren Großstädten einluden. Es waren keine Protestaufrufe, und keine Anklagen gegen das Regime begleiteten den Aufruf. Doch jeder wusste, was dieser Stadtspaziergang ausdrücken sollte, vor allem, wenn Millionen ihn befolgten. Prompt bevölkerten an diesem Tag mehr Polizisten, Soldaten und zivile Fahnder die jeweiligen örtlichkeiten und lockten allein schon wegen ihrer Massierung das – bisweilen nichts ahnende – Publikum  an. Der selbst anwesende Dobson wurde den ganzen Tag lang von „unauffälligen“, bulligen Männern mit Knopf im Ohr vermeintlich unbemerkt begleitet.

Dobsons Buch ist kein polit- oder gesellschaftwissenschaftliches Werk , sondern ein „frontbericht“ aus verschiedenen autoritär regierten Ländern. Dobson stellt auch keine politischen Theorien oder gar Ideologien auf, sondern berichtet aus dem mühsamen aber beharrlich geführten, meist gewaltlosen Kampf verschiedener Dissidentengruppen gegen das jeweilige System. Er vermittelt dadurch einen Einblick in die aktuelle Lage dieser Länder, der wesentlich mehr zutage fördert, als Fernsehen oder Zeitungen es mit ihren beschränkten Mitteln – und politischen Rücksichtnahmen! – können oder wollen. Am Ende stellt er den autoritären Staaten eine schlechte Zukunftsprognose, wenn er auch nicht an eine schnelle Demokratisierung glaubt. Dass diese kommen wird, ist für ihn ziemlich sicher, nur wann das sein wird, bleibt offen. Man kann ihm da sicher einen gewissen Zweckoptimismus vorhalten, doch der ist allemal besser als selbstgefällige Schwarzmalerei nach dem Motto: „Ich hab`s immer schon gesagt“.

Dass Dobson über Länder wie N ordkorea, Kuba, Saudi-Arabien oder einige zentralafrikanische Staaten nichts sagt, mag verschiedene Gründe haben. In Nordkorea gibt es keine Widerstandsbewegung, und Journalisten können sich dort nicht frei bewegen. Kubas mediale Rolle ist stärker als seine weltpolitische und lässt sich daher mit einigem Recht weglassen – was nicht ignorieren bedeutet -, und für die afrikanischen Staaten gilt wohl ein ähnliches Argument wie für Nordkorea, wobei die persönliche Sicherheit dort wohl im gleichen Maße durch die jeweilige Regierung wie durch marodierende Rebellen gefährdet ist. Bleibt Saudi-Arabien, und hier kann man vielleicht eine gewisse Rücksicht auf US-Interessen vermuten. Aber das ist reine Spekulation.

Das Buch „Diktatur 2.0“ ist im Blessing-Verlag unter der ISBN 978-3-89667-471-3 erschienen, umfasst 495 Seiten und kostet 19,95 €.

Frank Raudszus

 

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