Die Kammerspiele des Staatstheaters Darmstadt bringen Wolfgang Rihms Kammeroper „Jakob Lenz“

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Konsequent  

Die Kammerspiele des Staatstheaters Darmstadt bringen Wolfgang Rihms Kammeroper „Jakob Lenz“
David Pichlmaier als Jakob LenzMit dem zweifach wiederholten Wort „konsequent“ aus dem Munde des in geistiger Verwirrung erstarrten Jakob Lenz endet Wolfgang Rihms Kammeroper, und dieses Adjektiv wirkt wie ein vorweggenommener Kommentar zu dieser Inszenierung, die durch ihre Geradlinigkeit und Kompromisslosigkeit überzeugt. Rihms Kammeroper basiert auf Georg Büchners gleichnamiger Erzählung und passt damit in die Reihe der Büchnerwerke, die zu dessen 200. Geburtsjahr in Darmstadt – und nicht nur dort – auf die Bühne kommen.

Jakob Lenz war ein baltischer Schriftsteller, der in den Dunstkreis des gleichaltrigen Gothe geriet, diesen bewunderte, aber schließlich aus unbekannten Gründen dessen Gunst wieder verlor. Er erkrankte früh an paranoider Schizophrenie und hinterließ daher nach seinem Tod im Alter von 41 Jahren nur ein schmales Werk. Breiteren Kreisen ist er wohl eher durch Büchners geniale Novelle als durch seine eigenen Werke bekannt.

David Pichlmaier (Jakob Lenz), EnsembleDrei Personen spielten – außer Goethe – in Lenz´ Leben eine wesentliche Rolle: Goethes frühe Geliebte Friederike Brion, die Lenz vergeblich umwarb, sein Schweizer Freund Christoph Kaufmann sowie der Pfarrer Johann Friedrich Oberlin, bei dem der erkrankte Lenz auf Empfehlung von Kaufmann einige Zeit Unterschlupf fand. Um diese Zeit geht es in Büchners Novelle, die mit dem mittlerweile zur literarischen Ikone geronnen Satz „Den 20. Jänner ging Lenz durchs Gebirg.“ beginnt. Lenz kommt zu Oberlin und vertraut sich dessen Obhut an. Doch die Stimmen der Schizophrenie, für die man damals noch keinen wissenschaftlichen Begriff kannte, verfolgen ihn Tag und Nacht. In seinen Wahnvostellungen wird Friederike zur Geliebten, zu der er unbedingt zurückkehren muss; dann wieder breitet er sein künstlerisches Selbstverständnis in übersteigerter Form aus. Alles jedoch übertönen die Stimmen, die zunehmend eine normale Kommunikation mit seiner Umwelt erschweren und sie schließlich unmöglich machen. Motorische Störungen und eine zu wahrem Verfolgungswahn gesteigerte Unruhe begleiten seine mentalen Ausbrüche. Kaufmann, der zu Oberlin kommt, um Lenz einen Brief seines Vaters zu überbringen, reist schließlich entnervt und ratlos ab, und auch Oberlin kann Lenz nicht mehr helfen.

David Pichlmaier (Jakob Lenz), Peter Koppelmann (Christoph Kaufmann), Stephan Bootz (Johann Friedrich Oberlin)Wolfgang Rihm hat die Krankengeschichte des Jakob Lenz – und nichts anderes ist diese Novelle – mit einer Musik unterlegt oder besser gesagt in Klänge umgesetzt, in der die Zerrissenheit der Hauptperson zum Ausdruck kommt. Ganz in der Tradition der Musik nach Wagner verzichtet er auf den sogenannten „Wohlklang“ und zeichnet die Realität – hier die seelische – möglichst schlackenlos nach. Ein kleines Orchester aus Mitgliedern des Staatsorchesters mit einzelnen Streichern, Holz- und Blechbläsern sowie Schlagzeug erzeugt die jeweils benötigten Klangflächen und musikalischen Motive, die den jeweiligen Zustand von Jakob Lenz beschreiben. Bei dem gegebenen Thema einer zunehmenden geistigen Verwirrung, die mit paranoiden Zuständen einhergeht, ist dabei natürlich keine musikalische Schönheit im herkömmlichen Sinn zu erwarten. Dafür gibt Rihms Musik die Zerrissenheit und Verzweiflung von Jakob Lenz wieder, und vor allem das existenzielle Unverständnis dessen, was mit ihm geschieht. Rihms Musik ist dabei nicht ausgesprochen atonal, wenn sie sich auch von dem klassischen Harmonieschema löst. Sie lebt vor allem von den klanglichen Kontrasten, den schroffen Motiven und den abrupten Wechseln in Instrumentation, Dynamik und Klangfarben.

Regisseur Lothar Krause hat das Orchester hinter einem transparenten Vorhang plaziert, so dass es als Quelle der Klänge vom Publikum zu sehen ist. In der Mitte der engen Kammerspiel-Bühne hat Bühenbildnerin Nora Johanna Gromer ein nach vorne schräg abfallendes Dreieck augebaut, das sich als Ganzes und in seinen Einzelteilen horizontal verschieben lässt. Das mittlere Element ist als Tunnel ausgebildet, aus dem gleich zu Beginn die Stimmen wie Würmer aus dem Untergrund quellen und sich um Lenz drängen. Diese sechsköpfige Schar der Wahnwesen ist jedoch nicht nur darstellerisch sondern auch sängerisch einbezogen. Als „Stimmen“ bedrängen sie Lenz nicht nur physisch sondern auch mit ihren Einflüsterungen, die sich auf alle Stationen und Sehnsüchte seines Lebens beziehen. Der Inhalt dieser insistierenden Einflüsterungen ist selten zu verstehen, aber das tut dem Stück keinen Abbruch, weil die Situation als solche wesentlich eindringlicher ist als die Texte der Stimmen.

Im Zentrum dieses Sturms der Stimmen steht der von David Pichlmaier gespielte und gesungene Jakob Lenz, der immer wieder verzweifelt versucht, seinen Kopf aus dem Meer der ihn bedrängenden Stimmen zu heben und Klarheit zu gewinnen, doch stattdessen immer tiefer in geistige Verwirrung und Verzweiflung versinkt. Streckenweise ist er sich seiner Situation voll bewusst und unternimmt Versuche, sich das Leben zu nehmen oder zumindest im Sinne eines „Borderliners“ sich in die Arme zu ritzen, um aus dem grässlichen Traum zu erwachen. Doch all das sind schon Reaktionen eines vom geistigen Verfall Gezeichneten und beschleunigen den Niedergang nur. David Pichlmaier verkörpert diese Rolle im doppelten Sinne mehr als überzeugend. Schon die sängerische Aufgabe fordert ihn stimmlich ganz, muss er doch an die Grenzen der Stimmdynamik gehen. Daneben ist er jedoch auch als Schauspieler gefragt, eine bei Sängern oftmals heikle Aufgabe. Doch auch mimisch, gestisch und körperlich stellt er die Figur des langsam aber stetig aus den Fugen geratenden Lenz nicht nur glaubwürdig, sondern mit geradezu packender Eindringlichkeit dar. Man leidet mit dieser Figur förmlich mit und möchte fast zur Hilfe eilen, spürt jedoch, das Hilfe nicht mehr möglich ist. Dieses Gespür geben auch seine beiden Mitspieler wieder, Stephan Bootz als Pfarrer Oberlin im steifen Dreiteiler und Peter Koppelmann als eleganter Christoph Kaufmann im Mantel mit Pelzkragen, Handschuhen und Spazierstock. Bootz spielt den Oberlin als besorgten und betroffenen Geistlichen, der an seiner eigenen Hilflosigkeit verzweifelt, während Koppelmann dem Kaufmann Ungeduld und eine gewisse Genervtheit mitgibt. Die drei Stimmen ergänzen sich in diesem Trio ausgezeichnet: Stephan Bootz´ sonorer Bassbariton, David Pichlmaiers voluminöser Bariton und Peter Koppelmanns klarer, zeitweise scharfer Tenor.

Um dieses eng miteinander verknüpfte Dreigespann ranken sich im wahrsten Sinne des Wortes die „Stimmen“, dargestellt von Annika Gerhards, Anja Vincken, Elisabeth Auerbach, Cordelia Weil, Cornelius Lewenberg und Daniel Dropulja. In ihren weißen Anzügen mit schwarzen Marmoreffekten verleihen sie den krankhaften Visionen des Jakob Lenz ein eindringliches, verstörendes Gesicht und lassen ihr Opfer bis zum Schluss nicht zur Ruhe kommen. Erwähnenswert sind auch die beiden Kinder, die hier nicht nur als Statisten auftretzen sondern bei ihren Auftritten auch im versetzten Duett singen müssen. Sie absolvieren diese Soloauftritte nicht nur mit erstaunlicher stimmlicher Sicherheit sondern auch mit einer gewissen darstellerischen Nonchalance. In der stummen Rolle der halluzinierten Friederike tritt außerdem Lea Pfeifer auf.

Das Orchester unter der Leitung von Michael Cook intoniert die schwierige und kontrastreiche Musik mit markanter Transparenz, hoher Präzision und einem beeindruckenden Gespür für die dramatische Situation.

Das Premierenpublikum ließ sich von dieser musikalischen Tour durch ein krankes Gemüt gefangen nehmen und spendete nach einigen Augenblicken des betroffenen Schweigens kräftigen Beifall, der sich vor allem bei David Pichlmaier zu „Bravo“-Rufen steigerte.

Frank Raudszus   

Alle Fotos © Barbara Aumüller

 

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