Über das Verschwinden des Lebens
Ein multimedialer Kulturabend in Kunsthalle und Literaturhaus Darmstadt
Das Literaturhaus Darmstadt veranstaltet in regelmäßigen Abständen Lesungen zeitgenössischer Autoren, die jeweils die Spalten der Feuilletons beleben. Dies erfolgt meist unter einem bestimmten Motto, das im vorletzten Jahr „Väter und Söhne“ lautete und Walter Kohl sowie Lars Brandt mit Büchern über ihre jeweiligen Väter nach Darmstadt führte. In diesem Jahr heißt das Stichwort „Mütter“, und dazu hatte Literaturhaus-Leiterin Adrienne Schneider die Schriftstellerin Jenny Erpenbeck eingeladen, aus ihrem preisgekrönten Buch „Aller Tage Abend“ vorzulesen.
Im Rahmen dieser Lesungsreihe ergab sich aufgrund persönlicher Kontakte die Frage, wie das Literaturhaus mit der Kunsthalle zusammenarbeiten könne. Dabei ergab sich, dass Jenny Erpenbecks Buch im Grunde genommen vom „Verschwinden der Dinge“, nämlich der Zeit und des Lebens, handelt, während zu gleicher Zeit die Ausstellung „about:blank“ eben dieses Thema in der Kunsthalle gestalterisch verarbeitet. Also stellte man der Lesung eine Führung durch die Ausstellung voran, die Kunsthallenleiter Dr. Joch in detaillierter und engagierter Form selbst vornahm. Als die Teilnehmer nach der Führung durch den winterlichen Schneematsch zum Literaturhaus hinüber liefen, waren sie sozusagen bereits auf das Thema des Verlustes vorbereitet.
Jenny Erpenbeck hat ihr Buch bereits im vergangenen Jahr im Hessischen Rundfunk (hr2) vorgelesen. Einige Teilnehmer – auf jeden Fall Adrienne Schneider und der Rezensent – hatten diese Lesung zumindest auszugsweise verfolgt und waren dadurch angeregt worden, diese Veranstaltung zu besuchen. Jenny Erpenbeck hatte sich vorgenommen, an diesem Abend das aktuelle Motto der Lesungen zu berücksichtigen, und für ihre Lesung Kapitel mit direktem Bezug zum Thema „Mütter – Töchter“ ausgewählt. Gewissermaßen als Einleitung las sie jedoch zuerst drei kurze Ausführungen über das „Verschwinden der Dinge“, die sie im Kolumnenform in einer Tageszeitung veröffentlicht hatte. Mit diesen eher alltäglichen Überlegungen über die Vergänglichkeit des Alltags knüpfte sie unmittelbar an die Führung durch die Kunsthalle an.
Wie die in diesem Umfeld bereits veröffentlichte Rezension von Jenny Erpenbecks Roman zeigt, beschäftigen sich vor allem das erste und das zweite Kapitel mit diesem Komplex, als die Protagonistin noch eng in das elterliche und damit mütterliche Umfeld eingebunden ist. Da sie im ersten Kapitel nur als bereits gestorbener Säugling erscheint, tritt hier das vertikale Verhältnis zwischen drei Frauengeneration – die junge Mutter, deren Mutter sowie die Größmutter – in den Vordergrund. Jede dieser Frauen hat ein eigenes, zum Teil schweres Schicksal hinter sich. Jenny Erpenbeclk legte in dieser Lesung das Schicksal der Ostjuden vor dem Ersten Weltkrieg offen, als bereits Juden in Pogromen verfolgt und umgebracht wurden und viele Juden daraufhin die Strategie verfolgten, ihre Kinder mit „Gojim“ (Nicht-Juden) zu verheiraten, um sie vor weiteren Verfolgungen zu schützen. Es hat bekanntlich nicht geholfen. Auch das Spannungsfeld innerhalb der jüdischen Bevölkerung kam zur Sprache, das sich durch diese Mischehen ergab.
Auch für jemanden, der dieses Buich bereits gelesen und gehört (sowie rezensiert) hat, vermittelte diese Lesung noch einmal einen besonders intensiven Eindruck, vielleicht, weil man sich gegenüber der privaten Lektüre und der nebenläufigen Rezeption im (Auto-)Radio bei dieser Lesung vollständig auf die Vorleserin und den Stoff konzentrierte. Nun lesen Autoren erfahrungsgemäß anders als professionelle Sprecher. Seltsamerweise vermeiden sie fast durchweg eine emotionale Ausdrucksweise, fast als wollten sie hinter den eigenen Text zurücktreten. Dennoch vermittelt diese distanzierte Art der Darbietung eine eigene Art der Authentizität, was allerdings auch auf das Wissen um die Autorenschaft zurückzuführen sein mag.
Das Publikum folgte Jenny Erpenbecks Vortrag jedenfalls in fast atemloser Stille. Außer ein paar witterungsbedingten Hustenanfällen war keinerlei Unrúhe zu verzeichnen, wie sie sich sonst gerne durch Privatgespräche oder alle möglichen kleinen Nebenbeschäftigungen ergibt. Jenny Erpenbeck hatte ihr Publikum sozusagen voll im Griff, was sich wohl auch aus der besonderen Tragik dieses ersten Kapitels ergab.
Sie legte dann noch aus dem zweiten Kapitel nach, das die trostlose Situation im frühen Nachkriegswien beschreibt. Hunger, Kälte und sozialer Abstieg kennzeichnen diese Zeit, wobei vor allem die Kälte und die fehlende Heizung in diesen kalten Februartagen besonders gut nachzuvollziehen waren.
Die Lesung war wie üblich nicht nur gut besucht sondern ausgebucht. Die Verbindung mit Aktionen anderer Kulturträger kann man als kleinen Geniestreich betrachten, weil sich auf diese Weise Kunsthalle und Literaturhaus gegenseitig befruchten. Vielleicht kann man diese Verbindung noch ausbauen und eine der nächsten Lesungen mal in die Kunsthalle verlegen. Auf jeden Fall steht dort mehr Platz zur Verfügung. Adrienne Schneider und Peter Joch sollten einmal darüber nachdenken.
Die nächste Lesung führt am 5. März Arthur Becker mit seinem Buch „Der Lippenstift meiner Mutter“ nach Darmstadt.
Weitere Informationen finden sich hier.
Frank Raudszus
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