Gaito Gasdanow: „Das Phantom des Alexander Wolf“

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Roman über eine verlorene Generation

Man kann das vergangene Jahrhundert in der Rückschau mit einigem Recht als das katastrophalste in der Menschheitsgeschichte betrachten, wenn solche Bezeichnungen auch gerne von jeder Epoche in Anspruch genommen werden.  Doch zwei weltumspannende Kriege und die Anwendung völlig neuer Massenvernichtungswaffen sind schon ein Zeichen für eine historische Sonderstellung. Pessimisten haben spätestens nach dem Zweiten Weltkrieg und dem beginnenden Kalten Krieg mit der bevorstehenden finalen Katastrophe gerechnet.

In gewisser Weise war jedoch der Erste Weltkrieg wesentlich einschneidender, weil er zum ersten Male die hässliche Seite eines modernen Massenkrieges zeigte. In Russland steigerte sich die Wirkung des Ersten Weltkrieges noch durch die Revolution und den daran anschließenden Bürgerkrieg zwischen Bolschewiken und Menschewiken, der erst in den zwanziger Jahren sein Ende fand – zugunsten des bolschewistischen Terrors. In diese Zwischenkriegszeit fällt der Roman des Exilrussen Gaito Gasdanow, in dem der Autor autobiographische Erlebnisse verarbeitet.

Wie Gasdanow selbst hat der Ich-Erzähler bereits als Halbwüchsiger im russischen Bürgerkrieg gekämpft und sich anschließend mit Müh und Not in den Westen retten können. Dort landet er nach einigen Zwischenstationen in Paris, wo er als Journalist arbeitet. Die Zeit des Bürgerkriegs lässt ihn jedoch nicht los. Vor allem erinnert er sich an eine Situation, als er allein in der mörderischen Hitze der sommerlichen Steppe einem auf ihn zu galoppierenden Offizier des Gegners gegenüberstand, der ihn offensichtlich töten wollte. Wie betäubt hob er seine Pistole und traf den Mann. Dem vor ihm liegenden Sterbenden schaute er noch einmal in die Aufgen, dann nahm er sich dessen Pferd und ritt vor den nahenden Kameraden des Erschossenen davon.

In Paris stößt er zufällig auf ein Buch eines Engländers namens Alexander Wolf, in dem dieser genau diese Szene beschreibt, doch aus der Sicht des Offiziers. Die Übereinstimmung der Details – bis zu dem Gesicht des Sechzehnjährigen! – lässt ihn einen Zufall ausschließen und nach dem Autor fahnden. Beim Verleger des Buches trifft er jedoch auf Ablehnung, da dieser offensichtlich eine tiefe Abneigung gegen den Buchautor hegt. Seine Nachforschungen verlaufen im Sand, und er geht seinen Alltagsbeschäftigungen nach.

Wenig später trifft er in einem russischen Restaurant auf einen ehemaligen russischen Offizier, der sich vor allem durch seine Redefreudigkeit und Trinkfestigkeit auszeichnet. Als er bei diesem eben das Buch sieht, das ihm im Kopf herumgeht, ist sein Interesse geweckt, und er fragt den Russen vorsichtig nach dem Autor aus. Es stellt sich heraus, dass er ein Kriegskamerad von Alexander Wolf war, an ihn verschiedene Frauen verlor und ihm dennoch nie böse sein konnte, da Wolf angeblich über eine besondere Ausstrahlung verfügt. Wosnessenski, so sein Name, hat auch den Vorfall erlebt, bei dem Wolf angeschossen wurde und wie durch ein Wunder überlebte. Er war einer der nahenden Verfolger. Wosnessenski bezeichnet Alexander Wolf aufgrund seiner Wandlungsfähigkeit und Überlebenskunst als ein Phantom. Der Ich-Erzähler vermeidet es intuitiv, seine Identität zu lüften, hört aber den Geschichten über den Tausendsassa Wolf aufmerksam zu.

Anlässlich eines Boxkampfes lernt er zufällig die junge, attraktive Exilrussin Jelena kennen. Nach anfänglichem Zögern verliebt er sich in sie, seine Liebe stößt auf Gegenliebe, und die beiden werden ein Paar. Doch fällt ihm eine seltsame Distanziertheit, wenn nicht gar emotionale Kälte bei ihr auf, die sich nur in intimsten Momenten auflöst. Aus knappen Erzählungen erfährt er nach und nach, dass sie in London mit einem Mann liiert war, der sie duch seine emotionale Kälte fast zerstört hätte und dem sie sich nur durch die Flucht nach Paris habe entziehen können. Der Leser ahnt an dieser Stelle bereits die Verbindungen.

Je mehr sich die Beziehung des jungen Paares festigt, desto lockerer und emotional zugänglicher wird Jelena, und der Erzähler erfährt zum ersten Mal in seinem ereignisreichen und von Gewalt und Verfolgung geprägten Leben so etwas wie ein stabiles Glück. In dieser Situation trifft er in dem russischen Restaurant auf Wosnessenski und – Alexander Wolf, dem er sich jedoch erst später unter vier Augen erklärt. Wolf ist offensichtlich konsterniert, nahm sein Leben doch durch diesen Mann, der ihm jetzt in einem Pariser Lokal gegenüber sitzt, eine entscheidende Wendung. Wolf, dem stets alles gelungen war und der alles erreichte, was er sich vorgenommen hatte, hatte in diesem Augenblick den Geschmack des Todes auf seinen Lippen kennengelernt, und damit waren Selbstsicherheit und Zutrauen in das Leben dahin. Fortan lebte er in dem Wissen, dass jeder Augenblick der letzte sein konnte, und entwickelte einen eiskalten Zynismus des Augenblicks. Nur noch der Genuss der absoluten Gegenwart ist ihm etwas werrt, Vergangenheit und Zukunft haben keine große Bedeutung für ihn. Niederlagen betrachtet er als persönliche Kränkungen, und deshalb begegnet er seinem „Fast-Mörder“ mit gemischten, wenn auch kontrollierten Gefühlen. Wolf weiß ganz genau, dass späte Rache zu Friedenszeiten ihn ins Gefängnis oder gar unter die Guillotine bringen könnten, und hält sich zurück. Er kündigt jedoch an, dass er in Paris etwas Wichtiges zu erledigen habe, das unter Umständen mit dem Tod eines Menschen enden könne.

Jelena ist in diesen Tagen etwas anders und unruhig und verschiebt den üblichen Besuchstermin um einige Stunde. Wie von einer dunklen Ahnung getrieben steckt der Erzähler seine Waffe ein und eilt zu ihrer Wohnung, wo er schon beim Eintreten laute Streitereien hört. Er sieht einen Mann eine Pistole auf Jelena richten, zieht seine Waffe und erschießt den Mann. Es ist Alexander Wolf.

Damit endet der Roman fast abrupt. Erklärungen wie in Kriminalromanen gibt es nicht mehr, der Leser kennt allerdings mittlerweile Wolfs Charakter ausreichend gut, um sich die Geschichte selbst zusammenreimen zu können. Außerdem geht es Gasdanow nicht um die kriminalistische Aufarbeitung einer Dreiecksgeschichte sondern um die besondere psychische Situation einer Generation nach dem Großen Krieg. Der Schuss des Erzählers auf Wolf steht stellvertretend für den Ersten Weltkrieg und den anschließenden Bürgerkrieg, der die ganze europäische Welt ihrer Sicherheiten beraubte und sie in ein seelisches Nichts stürzte. Wolf und der Erzähler sind im Prinzip Brüder im Geiste. Beide haben durch den Krieg schwerste Verwundungen davongetragen. Wolf physische mit dem eigenen Tod vor Augen und der Erzähler psychische mit der gefühlten Schuld eines Mordes, der im Grunde nur Notwehr gewesen wäre. Wolfs seelische Verhärtung reflektiert die Verstörung einer ganzen Generation von Männern in allen am Krieg beteiligten Ländern, und auch der Erzähler lässt sich lange in einer Art Schockstarre nur von Tag zu Tag treiben, bis er auf Alexander Wolfs Buch stößt.

Der Roman ist im Grunde genommen ein Requiem auf alle im Krieg zerstörten Seelen, seien sie nun Täter oder Opfer. Gasdanow fasst dieses Requiem in eine Parabel über Liebe und Tod, und letzterem ist Alexander Wolf in der Steppe nicht entgangen, sondern er wurde nur aufgeschoben, um in Paris endgültig einzutreten. Zwischen diesen beiden Punkten der Erzählung lebt Wolf wie ein „Untoter“, eben ein Phantom, das in fast stoischer Ruhe auf den Vollstrecker wartet. Und das Schuldgefühl des Erzählers, von Anfang an im Grunde genommen unbegründet, da Krieg herrschte, er sich in einer Notwehrsituation befand und der Angeschossene überlebte, findet nun seinen nachvollziehbaren Grund. Keiner kann seinem Schicksal entgehen. Dieses kommt jedoch nicht von fernen Göttern wie in der griechischen Tragödie, sondern von den Menschen, die sich gegenseitig schon seelisch zerstört haben, bevor der physische Tod eintritt.

Gasdanows Roman, eher eine Novelle, lebt von der Konzentration auf die zentralen Gefühle und Ereignisse. Alle Personen sind Zuträger für die Handlung zwischen dem Erzähler und Alexander Wolf, Jelena wirkt dabei wie ein Scharnier. Die Sprache ist vordergründig leicht, führt aber im Untergrund eine unübersehbare Schicht von Melancholie, fast Schwermut mit sich. es ist unverständlich, warum dieser Autor solange von der Oberfläche des Literaturbetriebes verschwunden war. Er ist seinen Zeitgenossen wie Josef Roth, Alfred Döblin oder Nabokov, um einmal bei den Russen zu bleiben, in jeder Hinsicht ebenbürtig.

Rosemarie Tietze hat das Buch aus dem Russischen weniger übersetzt als vielmehr kongenial auf Deutsch nachgeschaffen.

Das Buch „Das Phantom des Alexander Wolf“ ist im Hanser-Verlag unter der ISBN 978-3-446-23853-4 erschienen, umfasst einschließlich Nachwort der Übersetzerin 190 Seiten und kostet 17,90 €.

Frank Raudszus

 

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