Das Tanztheater Wiesbaden gastiert mit „Blaubarts Geheimnis“ in Darmstadt

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Kihako Narisawa, Giuseppe Spota
Die dunkle Seite der Liebe  

Das Tanztheater Wiesbaden gastiert mit „Blaubarts Geheimnis“ in Darmstadt
Das Märchen vom grausamen Blaubart hat Generationen von Kindern erschreckt und sich im Laufe der Jahrhunderte zu einem Mythos über die Geschlechterbeziehungen entwickelt, der alle Zeichen des psychologischen Erfahrungsschatzes einer Gesellschaft aufweist. Herzog – König, Ritter, je nachdem – Blaubart überlässt seiner jungen Frau vor einer längeren Reise einen Zimmerschlüssel mit dem gleichzeitigem Verbot, dieses Zimmer je zu öffnen. Hiermit sind schon Metaphern wie Vertrauen und Prüfung verbunden. Natürlich öffnet die junge Frau das Zimmer und entdeckt die Leichen von Blaubarts vorherigen Ehefrauen. Der unerwartet zurückkehrende Blaubart entdeckt den Vertrauensbruch und verurteilt seine Frau zum Tode. Doch ihre Brüder retten sie im letzten Augenblick und töten Blaubart. Der französische Autor des Märchens hat die Neugier der Frauen und die Brutalität der Männer aufs Korn genommen. Der Volksmund hat alles andere darum herumgewunden und damit einen Mythos geschaffen, der die eigene Lebenserfahrung widerspiegelt.

Christian Maier, Ajumi SagawaStephan Toss, der Leiter des Tanztheaters am Staatstheater Wiesbaden, hat diesen Mythos in den Mittelpunkt seiner neuen Choreographie gestellt, dabei jedoch den Inhalt frei umgedeutet und damit den Schwerpunkt verschoben. Bei ihm zeigt Blaubart seiner jungen Frau Judith alle Zimmer bis auf eins, das er peinlichst ignoriert. In all diesen Zimmern sieht Judith Blaubarts Leben mit seinen vormaligen Ehefrauen, wobei Blaubarts Lieblosigkeit und Gewalttätigkeit deutlich werden. Darüber hinaus rückt Blaubarts Mutter in den Vordergrund, die das Haus auf geradezu unheimliche Art beherrscht. Als Judith schließlich an Blaubarts Stelle das gesagte Zimmer öffnet, kommt dahinter Blaubarts Jugend unter einer lieblosen, kalten Mutter zum Vorschein. Seine Lieblosigkeit gegenüber seinen Ehefrauen gründet darin, dass er von seiner Mutter nie Liebe erfahren hat und sie deswegen auch nicht empfinden oder weitergeben kann. Doch Judith verlässt Blaubart nicht sondern versucht, ihn von dem emotionalen Defizit zu befreien. Das ist jedoch nicht als „Happy End“ sondern eher als offenes Ende zu verstehen. Ob diese Beziehungen gelingen wird, weiß niemand. Sie muss täglich neu erarbeitet werden.

Damit sagt Toss einerseits nichts Neues, denn jeder Eheberater erzählt seinen Klienten dasselbe. Andererseits betont er die emotionale Kälte vieler familiären Beziehungen, wie sie heute nicht nur in Doppelverdiener-Haushalten verbreitet ist, und verleiht dem Märchen dadurch eine erschreckende Aktualität. Doch er verzichtet auf vordergründige gesellschaftliche Zuordnungen und Anklagen und beschränkt sich ganz auf die Darstellung der Situation. Bei ihm geht es um Machtspiele in Paarbeziehungen, wobei das Paar Mutter-Sohn richtungsweisend für die späteren Beziehungen des Sohnes ist. Insofern ist es nur logisch, wenn diese Beziehung im Mittelpunkt steht, hinter der die Beziehung zwischen Blaubart und Judith eher fragil wirkt. Es zeigt sich in dieser Inszenierung des Märchens die uralte Erkenntmis, dass emotional negativ besetzte Beziehungen wesentlich stabiler sind als die positiven. Letztere haben stets noch etwas zu verlieren und können daran scheitern, während eine Beziehung aus Distanz und Kälte nichts mehr zu verlieren hat und stabil auf dem Boden des emotionalen Nichts steht.

Valeria Lampadova, Giuseppe SpotaStephan Toss hat der eigentlichen Geschichte eine „Ouvertüre“ vorangestellt, die aus vier „Präludien“ zum Thema der Geschlechterbeziehungen besteht. In diesen vier Präludien beleuchtet er das Thema aus den unterschiedlichsten Perspektiven. Da treten – wie bei Jugendtreffs üblich – männliche auf weibliche Gruppen, man zeigt nach außen Desinteresse und umkreist sich doch. Die jungen Männer nähern sich den Frauen auf mehr oder minder eindeutige Weise, erfahren Abweisung, Ermunterung, lernen die Launen und überraschenden Wendungen der Frauen kennen. Dann wieder mischt sich eine junge Frau in rotem Kleid alleine unter eine Gruppe von Männern und mischt diese auf, um sich ihnen im letzten Moment zu entziehen. Und mitten in diesem Treiben der Gruppen entwickeln sich immer wieder Paarbeziehungen, in denen sich Spannungen aller Art aufbauen, wieder lösen und von Neuem aufbauen.

Ein wesentliches Element dieser Choreographie ist die Musik. Sie stammt von Henryk Górecki und Philip Glass. Beide Komponisten verbindet ein bewusster musikalischer Minimalismus, bei dem bestimmte Motive etliche Male mit nur kleinen Variationen wiederholt werden. Das übt eine suggestive Wirkung aus, die sich mit jedem Durchlauf durch das jeweilige Thema steigert. Ähnlich der „Techno“-Musik entwickelt diese Musik, die vor allem bei Philip Glass den Namen „minimal music“ erhalten hat, die Wirkung einer Droge. Was sich die Laientänzer in den Diskotheken wünschen, kommt hier der Choreographie zugute. Die Bewegungen zu dieser Musik gewinnen von Minute zu Minute an Eindringlichkeit. Hier lenken keine motivischen und harmonischen Wechsel vom tänzerischen Geschehen ab, sondern die Musik lenkt – ganz im Sinne der Choreographie – die Aufmerksamkeit auf die Tanzfiguren, und beide – Musik und Tanz – bilden im Bühnenraum eine geradezu zwingende Symbiose. Die vier Präludien stammen von von Henryk Górecki und bestehen im Wechsel aus reinem Streichorchester und Klavier mit Streichorchester und bieten damit auch eine breite Klangpalette. Den Hauptteil der Choreographie, die eigentliche Geschichte, begleiten dagegen unterschiedliche Kompositionen von Philip Glass, wobei mal ein reines Streichorchester, mal zusätzliche Saxophone oder das Klavier zum Einsatz kommen.

Auch das Bühnenbild unterscheidet sich für beide Teile dieser Choreograpie. Die Präludien spielen in einer simulierten Betonlandschaft, wie man sie etwa aus der „West Side Story“ kennt. Junge Menschen treffen sich in hässlichen Vorstadtgegenden, fernab der Wohnhäuser und ihrer Bewohner, um der Beobachtung zu entgehen. Das nackte Grau der mehrdimensional angeordneten Wände kontrastiert dabei mit der Emotionalität der Bewegungen. Waagerecht auf der Seitenwand oder kopfüber unter einem Überhang aufgestellte Menschenpuppen deuten an, das die Welt für die jungen Menschen buchstäblich auf dem Kopf steht und dass sie die rechtwinklige Ordnung der bürgerlichen Welt verachten. Dieses Bild verkehrt sich nach Judiths Heirat schlagartig ins Gegenteil. Eine dunkle Holzwand dominiert die nun abgedunkelte Bühne und symbolisiert eine konservativ-großbürgerliche Welt. Vor und hinter der Wand schieben sich hölzerne Türen auf Rollen vorbei, die nacheinander von Blaubart und Judith geöffnet werden und jeweils einen Teil von Blaubarts Welt freigeben.

Mitten in dieser Landschaft aus dunklen Holzwänden mit Kirchenfenstern gleichenden Intarsien, abweisend-verschlossenen Türen und stummen Domestiken regiert Blaubarts Mutter, in ein strenges, lilafarbenes Kostüm gekleidet. Mit abgezirkelten, fast drohenden Bewegungen begleitet sie das junge Paar auf Schritt und Tritt, bis Judith ihr irgendwann eine der vielen Türen vor der Nase zuschlägt. Blaubart und Judith kämpfen sich buchstäblich von Tür zu Tür, wobei man Blaubart seine inneren Kämpfe und Judith die Betroffenheit ansieht über das, was sie hinter den Türen entdeckt. Dort misshandelt Blaubart auf üble Weise und in unterschiedlicher Form seine verschiedenen Ehefrauen, ehe er sie achtlos entsorgt. In einem musikalisch und choreographisch sorgfältig aufgebauten Spannungsbogen steigen sie die Leiter der emotionalen Kälte und Lieblosigkeit hinauf, bis Judith die letzte Tür öffnet und dahinter die Mutter – in multipler Präsenz – entdeckt, die Blaubart als Kind emotional auf vielfältige Art misshandelt.

Stephan Toss hat diese Entwicklung eindrucksvoll dargestellt, und seine Tänzer und Tänzerinnen setzen seine Absichten hervorragend um. Maarten Pedersen als Blaubart und Kihako Narisawa als Judith tanzen die Beziehung dieser beiden Figuren bis in die letzte emotionale Verästelung aus und bringen die je eigene Gefühlslage der beiden Protagonisten überzeugend zum Ausdruck. Als Gegengewicht und Antipode beeindruckt Ludmilla Komkova in der Rolle von Blaubarts Mutter. Auch hier beweist sich wieder die alte Bühnenregel, dass das Böse stets größeren Eindruck hinterlässt als das Gute. Positive Figuren – so auch hier – sind von Zweifeln und einer gewissen Entwicklung geprägt. Sie stellen – dramaturgisch – gebrochene Charaktere dar und weisen damit eine gewisse Mehrdimensionalität und Mehrdeutigkeit auf. Das Böse ist jedoch stets eindeutig und damit darstellerisch stark und beeindruckend. Man denke nur an Faust und Mephisto.

Neben den drei Hauptdarstellern überzeugt die ganze Truppe des Tanztheaters Wiesbaden durch tänzerische Perfektion und emotionalen Ausdruck. Die Choreographie enthält vor allem in den Präludien auch eine Reihe humoristischer Tanzfiguren, mit denen Stephan Toss die Unsicherheit und die Balzgewohnheiten junger Menschen ironisch kommentiert. Dabei überschreitet er jedoch nie die Grenze milder Ironie, und die Lacher des Publikums zeigen mehr Wiedererkennung als Schadenfreude. Im zweiten Teil sind eventuelle humoristische Einlagen auf die Parodie der herrschsüchtigen Mutter beschränkt, wirken jedoch eher satirisch-grotesk als witzig, was ja auch der Aussage des Stückes entspricht.

Stephan Toss hat mit dieser Produktion eine beeindruckende Choreographie vorgestellt, die nicht ohne Grund für einen Theaterpreis vorgeschlagen wurde. Das Darmstädter Publikum wusste dies auch zu schätzen und spendete kräftigen bis begeisterten Beifall.

Weitere Aufführungen am 12. April sowie am 23. Mai.

Frank Raudszus 

 

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