Die Frankfurter „Fliegende Volksbühne“ gastiert mit Wolfgang Deichsels „Bleiwe losse“ in Darmstadt

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Szenenfoto
Kleinbürger als Witzfiguren  

Die Frankfurter „Fliegende Volksbühne“ gastiert mit Wolfgang Deichsels „Bleiwe losse“ in Darmstadt
„Bleiwe losse“ ist hessisch und bedeutet auf Hochdeutsch „sein lassen“, etwas nicht tun. Der im Jahr 2011 verstorbene Schriftsteller Wolfgang Deichsel hat in dem gleichnamigen Stück den deutschen Kleinbürger der sechziger und siebziger Jahre im Gewand seiner hessischen Ausgabe karikiert. In sechs voneinander unabhängigen Szenen leuchtet Deichsel mit seiner satirischen Lampe in Küchen und Wohnzimmer der sogenannten „kleinen Leute“, und dabei holt er nicht die Güte und stille Einfalt des unverstellten, bescheidenen Menschen ins Licht sondern Starrsinnigkeit, Geiz, Feigheit, Besserwisserei, Tratsch, Neid und unterdrückte Aggression. Die Mundart soll dem Ganzen Realität und Volksnähe verleihen, und der Satire auch ein wenig die Schärfe nehmen. Doch als „Comedy“ ist das Stück im Grunde genommen nicht angelegt, auch wenn viele Szenen einer deftigen Komik nicht entbehren.

Das alte Ehepaar aus der ersten SzeneDer Komiker und Frankfurter Lokalmatador Michael Quast hat sich jetzt dieses Stücks angenommen und es für die „Fliegende Volksbühne“ neu inszeniert. Wer Quast und seine Vorlieb für mimische und gestische Komik kennt, kann sich vorstellen, dass er die komischen Aspekte auf Kosten der bitteren Satire betont. So ist es denn auch. Quast liebt die Grimasse und den theatralischen Auftritt, der an sich schon immer eine Parodie des Theaters ist. Insofern sind seine Aufführungen nie nur komisch sondern auch stets hintergründig.

In der ersten Szene spielt Quast den fast dementen alten Mann, der den ganzen Tag am Küchentisch sitzt und nur noch die Hälfte von dem versteht, was um ihn herum vorgeht. Seine Partnerin spielt die gebrechliche Ehefrau, die mit ihrer letzten geistigen ud körperlichen Kraft den Haushalt organisiert und jetzt den Elektriker gerufen hat, weil das Radio nicht mehr funktioniert. Wie die drei über Technik, Kosten und Vergangenheit zetern und zagen, ist eine einzige Groteske, und man versteht vollauf, wenn der Elektriker (Matthias Scheuring) am Ende unter Verzicht auf das Honorar buchstäblich flüchtet. Erinnerungswürdig sind in dieser Szene auch die Kostüme.

Im zweiten Stück sitzt ein Prekariatspaar – er (Matthias Scheuring) in Jogginghose und Sandalen, sie im Morgenmantel – am abendlichen Tisch und schwadroniert. Er hört einen Schrei aus dem nahen Park, ist aber weniger besorgt als neugierig. Sie nimmt das zum Anlass, um über eine Nachbarin zu tratschen, und am verzichtet er darauf, im Park nachzuschauen, weil er sowieso schon die Schuhe ausgezogen hat. Neben der bitterbösen Satire auf die Gleichgültigkeit sprechen hier die Kostüme und die Körpersprache Bände.

Ein kleines Kunstwerk ist die Nachhilfestunde in Latein, die der mit Viertelwissen gesegnete Vater (Michael Quast) seinem Sohn (Matthias Scheuring) angedeihen lässt. Das eigene Unverständnis verschleiert der Vater mit Wutausbrüchen gegenüber dem faulen Sohn und den Nachbarn, die ihren neuen Fernseher zu laut gestellt haben. Das nutzt die affektierte Frau dazu, sich über die Nachbarn und ihre finanziellen Verhältnisse Gedanken zu machen. Nebenher versucht jeder, dem anderen die Aufgabe zuzuschieben, sich bei den Nachbarn zu beschweren. Hier geht Michael Quast einmal nicht als der Komiker sondern als ein völlig überforderter Vater und von Minderwertigkeitsgefühlen zerfressener Wut-Kleinbürger aus sich heraus. Auch die Maske vollbringt in dieser Szene kleine Wunder an Vater und Sohn.

Ein Anruf aus Amerika steht in der nächsten Szene im Mittelpunkt. Im Jahr 1975 war das elefonieren noch sehr teuer, und nicht jeder Haushalt verfügte über ein Telefon. So nimmt denn Frau Körner den Anruf ihrer Tochter aus den USA am Apparat des Nachbarn (Michael Quast) entgegen, wobei sie vor Aufregung – wegen der Entfernung – und Ehrfurcht vor dem großen Telefonat nichts zustande bringt. Als das Telefon dann endlich klingelt, muss der Nachbar das Gespräch führen, weil weder Frau Körner noch ihre Tochter Elvira (Matthias Scheuring in Frauenkleidern!) einen Ton hervorbringen.

Im nächsten Stück spielt Matthias Scheuring einen Alten im Pflegeheim, der noch einmal sein Musikinstrument aus seiner Jugend spielen will. Die forsche Schwester verbietet das Spielen kategorisch, und der geistig minderbemittelte Neffe (Michael Quast) versucht in schönstem nöligen Badenserdialekt den Alten davon abzuhalten – ohne Erfolg.

Die letzte Szene bezieht dann auf subtile Weise das Publikum mit ein. Matthias Scheuring als Großmutter mit Mantel und Hut und Michael Quast als ihre Enkelin im roten Kleidchen, blonden Zöpfen und mit einem Lutscher in der Hand füttern im Zoo die Äffchen und amüsieren sich über die possierlichen oder frechen Tierchen. Der Witz besteht jedoch darin, dass die Äffchen die Zuschauer in den ersten Reihen sind. Wie schön könnte so ein Affenfüttern sein, wenn da nicht immer andere Frauen eifersüchtig um den ersten Platz vor dem Affenkäfig kämpfen würden. Dieser absurde Kampf um die Gunst der kleinen Primaten ist wahrhaftig der Höhepunkt der Grotesken an diesem Abend und führt zu viel Gelächter und Kommentaren im Publikum, das munter die ihm zugeworfenen Kohlblätter zurückwirft.

Michael Quast setzt in seiner Inszenierung dieser Szenenfolge voll auf die Karte „Komik“, bis hin zum Klamauk. Das kommt natürlich beim Publikum immer gut an, und er zieht mit seinen grotesken Slapstick-Einlagen – ein Markenzeichen von Michael Quast – die Zuschauer auf seine Seite. Dabei geht leider die hintergründige und weit treffendere Satire auf die Dumpfheit kleinbürgerlicher Attitüden zugunsten der Komik verloren. In den Typen, die Michael Quast und seine Mitspieler spielen, erkennt man mit Leichtigkeit und Erleicherung die mehr oder minder lieben Mitmenschen wieder, doch nie sich selbst. Mit solch überzeichneten Typen braucht man sich nicht zu identifizieren. Einen Spaß hat er sich – und uns – machen wollen.

Frank Raudszus 

Alle Fotos © Wonge Bergmann
 

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