Europäische Uraufführung von Marina Carrs Schauspiel „Phaedra Backwards“ in Darmstadt

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Uwe Zerwer (Theseus), Karin Klein (Phädra), im Hintergrund Tom Wild (Minotaurus)
Karin Klein (Phädra), Uwe Zerwer (Theseus)
Andreas Vögler (Hippolytus), Karin Klein (Phädra), Diana Wolf (Ariadne)
Der Mythos lebt  

Europäische Uraufführung von Marina Carrs Schauspiel „Phaedra Backwards“ in Darmstadt
Die großen Mythen der Menschheitsgeschichte – vor allem die griechischen – werden gerne als Märchen und Legenden vergangener Generationen von unserer heutigen Welterfahrung abgekapselt. Gerade die Erhebung der Mythen zu Ikonen der geistigen Menschheitsgeschichte verstellt oft den Blick dafür, dass sich in den Mythen menschliche Stärken, Schwächen, Sehnsüchte und Ängste verdichtet haben, die an keine Epoche gebunden sind. Die Tatsache, dass in Mythen Götter und omnipotente Helden auftreten oder phantastische Monstergestalten ihr Unwesen treiben, nimmt ihnen nichts von ihrer zeitlosen Gültigkeit. Gerade letztere lassen sich im Lichte der modernen Psychotherapie leicht als Metaphern für Schuld, Gewissen und Ängste interpretieren.

Uwe Zerwer (Theseus), Karin Klein (Phädra), im Hintergrund Tom Wild (Minotaurus)

Betrachtet man die Mythen genauer, stellt man fest, dass jeder von ihnen eine bestimmte menschliche Extremsituation beschreibt. Bei Ödipus ist es der alte Kampf zwischen Vater und Sohn, bei Medea die verlassene Frau und bei Phädra der Komplex der ewigen Zweiten. Vordergründig entsteht der Konflikt in diesem Mythos aus verschmähter Liebe, doch Marina Carr zeigt in ihrem Stück, dass mehr hinter Phädras Rache steckt als nur enttäuschte Verliebtheit in einen jungen Mann.

In dem Mythos um den Minotaurus hatte der Held Theseus dieses kretische Ungeheuer getötet und auf dem Rückwege Ariadne – die ihm geholfen hatte und die er heiraten wollte – durch den von den Göttern verfügten Tod verloren. So heiratete er Ariadnes Schwester Phädra, die sich jedoch ein Leben lang als „zweite Wahl“ vorkommt und damit nicht fertig wird. Als Hippolytus, der aus einer früheren Beziehung stammende Sohn von Theseus, ins Haus kommt, sieht sie ihre Chance. Um Theseus zu treffen, versucht sie, Hippolytus zu verführen. Als dies misslingt, bezichtigt sie ihn bei Theseus der unsittlichen Annäherung, worauf dieser ihn verbannt. Auf der Flucht verunglückt Hippolytus auf Geheiß der Götter mit seinem ebenfalls mythischen Wagen tödlich. 

Die mythische Erklärung, Aphrodite habe Phädra mit einem Zauber dazu gebracht, sich in Hippolytus zu verlieben, greift für Marina Carr zu kurz. Sie übersetzt den Mythos in eine neuere, psychologisch und gesellschaftlich orientierte Sprache. Dabei wählt sie nicht etwa ein zeitgenössisches Ambiente mit realistischen Figuren, die nur dem alten Mythos nachgebildet sind, sondern sie bringt tatsächlich die Figuren des Mythos auf die Bühne, als da sind Theseus, Phädra, Hippolytus, Minos und sogar der Minotaurus. Mit dieser Fortführung der mythischen Rollen zeigt sie die zeitlose Wirkung dessen, was dem Mythos zugrunde liegt. Der Kunstgriff besteht bei ihr jedoch darin, dass sie diese mythischen Figuren als ganz handfeste Personen des frühen 21. Jahrhunderts auf die Bühne bringt. Theseus (Uwe Zerwer) ist ein ebenso erfolgreicher wie bedenkenloser Wirtschaftsführer, der nur mit Leibwächtern unterwegs ist und ein abgeklärt-weltmännisches Wesen mit einem zynischem Hauch zur Schau trägt. Wer so erfolgreich ist, den kann nichts mehr erschüttern, und das zeigt er auch. Phädra (Karin Klein) ist die typische Frau eines solchen „Helden“, die keinen eigenen Mittelpunkt findet und ihre Langeweile im goldenen Käfig mit fortgesetztem Alkoholgenuss und verbalen Rundumschlägen gegen ihre ganze Umgebung bekämpft. Neben der „Nanny“ (Sonja Mustoff), die die Kinder betreut und ständig den Tisch auf- und abdeckt, bekommt vor allem Theseus ihre schlechte Laune und Frustration zu spüren. Sie spürt, dass jegliche Liebe, wenn sie denn je da war, bei ihm erloschen ist, und ist sich schmerzhaft der Tatsache bewusst, dass sie für ihn stets nur eine von vielen war.

Auf diesem Boden gedeihen natürlich Rachegelüste besonders gut. Als ihr Stiefsohn Hippolytus (Andreas Vögler) seine junge Freundin Aricia (Diana Wolf) ins Haus bringt, nimmt Phädra sie mit allen Mitteln der weiblichen Bosheit ins Gebet, nur um eine lästige Konkurrentin auszuschalten. Dem wiederholt auftretenden Theseus wirft sie die üblichen Beleidigungen an den Kopf – er ist alt und krumm geworden, andere Männer sind attraktiver, Frauen bekommt er nur noch gegen Geld, etc.  – muss jedoch feststellen, dass er die Kränkungen lediglich mit sarkastischer Nachsicht und deutlichen Hinweisen auf ihren Alkoholpegel beantwortet. Ihre Machtlosigkeit und Bedeutungslosigkeit in seiner Welt steigern ihre Frustration und Aggression so weit, dass sie – eher im Vorbeigehen – den irritierten Hippolytus „anmacht“. Ihren Verführungskünsten ist jedoch deutlich anzusehen, dass sie einer Mischung aus Langeweile und kalter Berechnung entspringen. Nur durch eine Affäre mit seinem eigenen Sohn glaubt sie Theseus noch treffen zu können. Denn es geht schon lange nicht mehr darum, die eheliche Liebe zurückzugewinnen, sondern nur noch darum, im Geschlechterkampf Punkte zu sammeln und womöglich den tödlichen Streich zu setzen.

In Marina Carrs „Phädra“ zeigt sich Theseus von der angeblichen Zudringlichkeit seiner Sohnes  gegenüber Phädra nicht leidenschaftlich erregt sondern höchstens abgestoßen. Als typisches „Alphatier“ hält er seinen schönen Sohn für einen Versager, der seine eigene Unfähigkeit durch die plumpe Anmache seiner Stiefmutter kompensieren will. Theseus ist die Geschichte und seinen Sohn leid, und in einer Aufwallung von eher Ärger als Wut wirft er ihn aus dem Haus. Als Hippolytus am nächsten Tag tot aus dem Meer gefischt und seinem Vater zu Füßen gelegt wird, bedenkt dieser die Leiche mit einem Blick, der dieses Ende eines erfolglosen Lebens als naturgegeben betrachtet.

Marina Carr lässt auch offen, ob Theseus hinter den Verrat seiner Frau kommt. Es geht ihr nicht darum, den alten Mythos – bei dem sich Phädra nach der Abweisung durch Hippolytus umbringt – exakt nachzubilden, sondern die psychologischen Befindlichkeiten herauszuarbeiten. Aufgrund der abschätzigen Behandlung seines Sohnes ist Theseus am Ende ebenso schuldig an dessen Tod wie seine Frau Phädra. Beide haben sich im Grunde genommen nichts vorzuwerfen und führen ihr Leben auch weiter, als sei nichts geschehen. Nur der Grad der Verbitterung und des Zynismus wächst bei beiden danach um Einiges.

Der Titel „Phädra Backwards“ verweist auf die dramaturgische Anlage des Stücks. In der ersten Szenen betrinkt sich Phädra am Tage nach Hippolytus´ Tod systematisch und lässt ihr Leben an sich vorüberziehen. Dazu hat Gesine Kuhn an der Bühnenrückwand eine Videoleinwand montiert, auf der Szenen aus Phädras Kinderzeit mit ihrer Schwester Ariadne vorüberziehen. Kindergesichter und  Wanderungen durch eine Waldlandschaft wiederholen sich in diesen Videoclips wie Obsessionen der Erinnerung, und wenn diese Assoziationen verschwinden, stürzt sich eine nie endende Meeresbrandung in Zeitlupe an einen Strand. Wer will, kann diese ewige Brandung als Metapher auf die ewiggleichen menschlichen Schicksale betrachten. Mehr oder minder gleichförmig rollen die Wellen in unermüdlicher Folge an, türmen sich auf zum Konflikt und brechen donnernd in der Katastrophe am Strand zusammen. Doch diese Interpretation ist spekulativ.

Andreas Vögler (Hippolytus), Karin Klein (Phädra), Diana Wolf (Ariadne)

Marina Carr lässt die Geschehnisse vor Hippolytus´Tod aus der Retrospektive Revue passieren, hauptsächlich aus Phädras Perspektive, die dabei weit zurückgeht und ihre Mutter Pasiphae (Maika Troscheit als leicht verrückte Mutter und Frau des Königs Minos) sowie ihren Vater Minos (Gerd K. Wölfle) heraufbeschwört. Mehr als alle beherrscht jedoch die Erinnerung an ihren Bruder Minotaurus ihren Geist. Ihn, den Ausgestoßenen und Unangepassten – die Metapher des Ungeheuers -, hat Theseus einst getötet, was ihm Phädra noch heute nicht verzeihen kann. Tom Wild geistert als Minotauros während fast der gesamten Aufführung hinter der halbtransparenten Leinwand als Schattenriss-Gespenst mit Stiermaske durch die Szenen. Phädra bewegt sich nahezu ausschließlich in der Vergangenheit. Eine Zukunft gibt es für sie höchstens in Gestalt der nächsten Champagnerflasche. Hier ist ein Leben schwer beschädigt worden, doch die Betroffene kann und will sich nicht selbst helfen. Ihr Unglück schreibt sie anderen zu, vor allem aber Theseus. Seine Macht sieht sie als dunkle Bedrohung und seine Selbstgewissheit als unerträgliche Arroganz. Das trifft zwar im Detail zu, dient in ihrem Fall jedoch nur der Rechtfertigung ihres eigenen selbst- und fremdzerstörerischen Lebensstils. Ihre geradezu nihilistische Verzweiflung kreidet sie Theseus an und brennt auf nichts anderes als Rache.

Am Ende sind beide zerstört, und beide wahren darüber die Contenance eines kalten Zynismus, dem es nur noch darum geht, dem anderen gegenüber keine Schwäche zu zeigen. Phädra wird weiter dem Champagner zusprechen, ihre Umgebung demütigen und sich wahrscheinlilch – wie im Mythos – irgendwann umbringen. Theseus wird seine Befriedigung in der Ausübung seiner Macht suchen und doch nicht finden. Dennoch wird er so weitermachen wie bisher. Auch dieses „immer weiter so“ schlägt sich in den ewig donnernden Wellen der Brandung im Video nieder.

Uwe Zerwer und Karin Klein zelebrieren diesen mythischen Ehekrieg ein wenig im Stil von „Wer hat Angst vor Virginia Wolf“. Da bleibt keiner die Antwort schuldig, und die Auseinandeserzung wird bis zur letzten bitteren Konsequenz geführt. Uwe Zerwer, mit dem gegeltem Haar des Erfolgreichen, spielt überzeugend den spöttischen Erfolgsmenschen, den nichts mehr berührt, und Karin Klein läuft in zunehmender Wut gegen diese unbezwingbare Mauer an. Andreas Vögler wirkt als Hippolytis ein wenig statisch, was wohl seiner Rolle geschuldet ist. Denn Hippolytus handelt hier nicht; selbst seine Freundin Aricia lässt er von Phädra beleidigen und dann ziehen. Diana Wolf bringt mit der Aricia in den statischen und eng abgesteckten Ring zwischen Theseus und Phädra eine jugendliche Frische, und Sonja Mustoff zieht als Nanny eine durchgehende Linie des Bodenständigen. Maika Troscheit bringt die groteske Seite eines Familienstammbaums zum Vorschein, so wenn Pasiphae sich mit dem Stier paart (und später den Minotauros zur Welt bringt) oder im weißen Nachthemd an den Möbeln turnt; auch verrückte Mütter können ein Kind prägen, könnte hier die Aussage lauten. Gerd K. Wölfle dagegen ist ein barscher und machtbewusster König Minos, der für die Launen seiner Frau wenig Verständnis aufbringt.

Weitere Aufführungen am 5., 9.  und 25. Mai

Frank Raudszus 

Alle Fotos © Barbara Aumüller

 

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