Frank Schirrmacher: „Ego – Das Spiel des Lebens“

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Eine kritische Sicht des Informationszeitalters und der Wissensgesellschaft

Spätestens mit dem Siegeszug des „World Wide Web“ haben sich Schlagworte wie „Wissens-“ oder „Informationsgesellschaft“ durchgesetzt. Dabei verbreiten diese Begriffe überwiegend einen neutral-technokratischen bis positiven Grundtenor. Informationen, die sich früher nur in Wochen aus Archiven, Zeitschriften und Befragungen gewinnen ließen, stehen heute über leistungsfähige Suchmaschinen in Minuten wenn nicht Sekunden zur Verfügung. Das hat zwangsläufig zur Folge, dass Menschen und Institutionen, die früher als Informationsbeschaffer und -filter großen Einfluss besaßen, diese Macht weitgehend an den Internet-Nutzer verloren haben. Insofern hat das Internet tatsächlich eine Demokratisierung auf dem Informationssektor zur Folge gehabt, und vor allem Zeitungen und die für sie arbeitenden Redakteure leiden unter diesem faktischen Machtverlust – von der abnehmenden Arbeitsplatzsicherheit ganz zu schweigen. Wenn ein Herausgeber einer führenden Tageszeitung sich kritisch mit der digitalen Entwicklung auseinandersetzt, muss das auch unter diesem Blickwinkel gesehen werden, ohne dem Autor platte Realitätsverweigerung und „Maschinenstürmerei“ unterstellen zu wollen.

Frank Schirrmacher gehört seit Jahren zu den Herausgebern der FAZ (Frankfurter Allgemenine Zeitung) und hat sich bereits einen Namen als Autor kritischer Bücher zu aktuellen Themen gemacht. Im vorliegenden Buch untersucht.er die Konsequenzen der neuen Informationsgesellschaft mit ihrer rasanten Verlagerung von Daten und Informationen ins Internet und vor allem die kommerziellen Aktivitäten, die um diese Informationen entstehen.

Die Wirtschaftswissenschaften leiden seit Anbeginn unter dem Komplex, keine echte (Natur-)Wissenschaft zu sein. Um jedoch ökonomische Zustände und Strukturen zutreffend zu bescheiben und daraus belastbare Prognosen zu erarbeiten, benötigt man ein Modell mit klaren Vorgaben, aus dem sich entsprechende Algorithmen entwickeln lassen. Die Ökonomen haben dazu den „homo oeconomicus“ definiert, einen Modellteilnehmer am Markt, dessen wesentliche Eigenschaft darin besteht, immer den eigenen Nutzen zu maximieren. Die Verfechter des Marktes entwickelten daraus die nicht ganz von der Hand zu weisende Behauptung, dass dieser multiple Egoismus letztlich dem Markt und damit allen zugute kommt, da der „homo oeconomicus“ nie derart egoistisch handeln werde, dass er Repressionen der anderen Marktteilnehmer fürchten müsse. Insofern nutzt ihm auch ein gewisser Altruismus.

Dieser „homo oeconomicus“ ging dann als Voraussetzung in viele ökonomischen Makro- und Mikro-Modelle ein und führte zu Voraussagen über die wirtschaftliche Entwicklung, den Wohlstand der Gesellschaft u.a.m.. Leider hat sich bereits frühzeitig gezeigt, dass diese Voraussagen nie die großen Wirtschafts- und Finanzkrisen prophezeit haben. Solche Warnungen kamen eher von belächelten Außenseitern.

Doch Schirrmacher geht es nicht um falsche oder fehlende Prognosen, er sieht weit bedenklichere Entwicklungen aus dem Modell des „homo oeconomicus“ auf uns zukommen. Vor allem Banken und Versicherungen haben dieses Modell benutzt, um sich einerseits gegen Risiken abzusichern, aber auch um andererseits dem „homo oeconomicus“ in jedem Kunden etwas zu verkaufen. Das Modell wurde also zum Geschäftsmodell. Solange die Finanzwirtschaft das Modell nur durch ihre Mitarbeiter mehr oder weniger bewusst verwendete, zeigte es keine signifkanten Konsequenzen außer vielleicht erhöhte Umsätze des einen oder anderen Verkäufers. In dem Augenblick jedoch, wo der „homo oeconomicus“ in die selbständig arbeitenden Algorithmen der Bank-Computer einging, verselbständigten sich diese und begannen, ein Eigenleben zu führen. Schirrmacher nennt den „homo oeconomicus“ daher konsequent „Nr. 2.“, womit er auf ein digitales „alter ego“ des Menschen verweist, das zunehmend die Kontrolle über viele Bereiche nicht nur des Geschäftslebens übernimmt.

Spektakulärstes Beispiel ist für Schirrmacher der Hochfrequenzhandel an den Börsen, der mittlerweile im Millisekundenbereich verläuft und von außen weder zu verstehen noch zu kontrollieren ist. In der Vergangenheit ereigneten sich bereits computergenerierte „Flash-Krisen“, die zwar innerhalb kurzer Zeit wieder verschwanden, aber ein steigendes Maß an Unbehagen hinterließen. Selbst die Entwickler der Hochfrequenzsoftware zucken laut Schirrmacher ratlos mit den Schultern, wenn man sie nach Gründen und Konsequenzen fragt.

Bei der Erklärung dieses Phänomens der „automatischen Agenten“ geht Schirrmacher weit zurück in die Zeit des Kalten Krieges, als beide Seiten dem Problem der mehrfachen gegenseitigen „Overkill“-Fähigkeit mit einem Konzept begegnen mussten. Die Amerikaner entwickelten in der RAND Corporation die bekannte „Spieltheorie“, bei der ein Konflikt zwischen zwei Gegnern als Gewinnspiel betrachtet wird, bei dem man wissen muss, was der Gegner am wahrscheinlichsten tun wird, aber auch annehmen muss, dass der Gegner die eigenen Überlegungen kennt. Daraus ergibt sich eine intellektuelle Spirale gegenseitigen Austricksens, die bei der nuklearen Abschreckung – zufällig? – funktioniert hat. Die Tatsache, dass der Kalte Krieg mit dem Untergang des Sozialismus geendet hat, betrachteten die Verfechter der Spieltheorie als ihren Sieg und übertrugen das Konzept in der Folgezeit auf alle kommerziellen Aktivitäten, angefangen beim Bankensektor. Als Folge werden heute aufkommende Konflikte nicht mehr auf dem Wege der Kommunikation und Diskussion sondern nach der „Poker-Manier“ der Spieltheorie behandelt. Schirrmacher weist darauf hin, dass die dafür notwendigen Algorithmen angesichts der heute verfügbaren Rechenkapazität an jedem Heimcomputer praktisch unbegrenzt angewendet werden können.

Ein weiteres Gebiet, das Schirrmacher  Sorgen bereitet, ist der Onlinehandel und die damit einhergehende Verarbeitung der Kundendaten. Da heute die Bevölkerung der entwickelten Gesellschaften mehrheitlich über das Internet kommuniziert und Geschäfte tätigt, können genaue Profile erstellt werden, die letztlich eine immer genauere Vorhersage ermöglichen. Wir alle kennen Bestellungen bei Amazon, die sofort mit weiteren  „passenden“ Angeboten beantwortet werden. Abgesehen von dem Unbehagen auslösenden „Big Brother“-Charakter dieser Profilierung sieht Schirrmacher jedoch eine „self fulfilling prophecy“ am Werk. Die Erinnerung des Kunden an andere, vielleicht in dem aktuellen Augenblick vergessene, Interessen leiten ihn auf bestimmte Wege, und auf diese Weise wird der Netzkunde erst „dekonstruiert“ und dann wieder neu, d.h. im Sinne des Anbieters, zusammengesetzt. Schirrmacher sieht hier langfristig eine computergenerierte Manipulation ungeahnten Ausmaßes auf uns zukommen, von der vielleicht die ursprünglichen Entwickler der jeweiligen Software nichts geahnt haben. Die immer intelligenter werdenden „Software-Agenten“ verselbständigen sich und machen den „User“ erst zu dem ursprünglich vorausgesetzten, allein egoistischen Interessen verpflichteten „homo oeconomicus“, ohne dass irgendjemand dies explizit beabsichtigt hat.

Schirrmacher geht in seinem Buch  noch auf viel mehr Aspekte dieses „Spiels“ ein. Eine detaillierte Diskussion all dieser Aspekte würde diese Rezension jedoch sprengen. Die wesentliche Aussage lautet jedoch, dass nach der „Optimierung des Spiels“ (Titel des ersten Teils) die „Optimierung des Menschen“ (Titel Teil zwei) folgen wird, mit all den oben nur angerissenen Konsequenzen. Man mag manche von Schirrmachers Aussagen als Panikmache und Schwarzmalerei betrachten, und als Redakteur einer prinzipiell gefährdeten Print-Publikation sind sicher einige Warnungen auch aus dieser Motivation zu verstehen. Dennoch spricht dieses Buch ein Thema an, das leider weitgehend unbeachtet bleibt oder bewusst verdrängt wurde. Die netzaffine Internet-Gemeinde – Piraten u.a.m. – wird diese Kassandra-Rufe schlicht überhören, weil sie nicht ins Bild einer „schönen neuen Welt“ passen. Der „nicht-affine“ Teil der Bevölkerung versteht leider oftmals – auch heute noch! – so wenig von Computern und Internet, dass er keinen Zugang zu den Problemen findet. Es ist die Aufgabe dieses Buches, beide Teile wachzurütteln und die „Grenzen des (Internet-)Wachstums“ zu definieren und zu kontrollieren.

Das Buch „EGO – Das Spiel des Lebens“ ist im Blessing-Verlag unter der ISBN978-3-89667-427-2 erschienen, umfasst 350 Seiten und kostet 19,99 €.

À propos: Das Buch wird bei Amazon nur mit drei Sternen bewertet (s. oben)

Frank Raudszus

 

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