Das WDR-Sinfonieorchester und Christian Tetzlaff gestalten einen weit greifenden sinfonischen Abend im Kurhaus Wiesbaden

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Das WDR-Sinfonieorchester
Sinfonische Klammer eines Jahrhunderts  

und Christian Tetzlaff gestalten einen weit greifenden sinfonischen Abend im Kurhaus Wiesbaden
Das Rheingau Musik Festival geht an diesem Wochenende zu Ende. Natürlich muss dieser Schluss mit verschiedenen sinfonischen Schlussakkorden gefeiert werden. In einer der meistbespielten Stätten, dem Kurhaus Wiesbaden, fand daher am 30. August noch einmal ein großes sinfonisches Konzert statt. Dazu spielte das Sinfonieorchester des WDR unter der Leitung von Jukka-Pekka Saraste im „Friedrich von Thiersch“-Saal des Kurhauses auf. Das Programm umspannte mit zwei Werken von Ludwig van Beethoven und einem des Finnen Jean Sibelius das ganze 19. Jahrhundert und zeigte damit die Entwicklung der sinfonischen Musik in diesen ereignisreichen hundert Jahren.

Am Anfang stand Beethovens Ouvertüre zum Trauerspiel „Egmont“, op. 84, aus dem Jahr 1809. Zum ersten Mal hatte man damals Napoleons Vormarsch vor den Toren Wiens einen Riegel vorschieben können, und Beethoven schrieb – sozusagen als Reaktion darauf – die Bühnenmusik zu Goethes Stück, die den Befreiungskampf symbolisierte. Goethes Trauerspiel endet zwar mit dem Tode des Helden, jedoch der Aufstand der unterdrückten Niederländer kündigt sich bereits in dessen tragischem Ende an. So verströmt auch Beethovens Ouvertüre das kraftvolle Pathos der Aufklärung und betont die Aufbruchsstimmung, die damals im besetzten Europa aufkam. Zeichnet die Musik anfangs noch die drohende Grundstimmung des Trauerspiels nach, geht sie nach der Generalpause, die nach Beethovens Vorstellungen Egmonts Tod darstellen sollte, in einen wahren Befreiungsjubel über, der eindeutig auf den – allerdings kurzlebigen – Sieg über die Franzosen verweist. Saraste ging die Ouvertüre ausgesprochen forciert an, mit kräftiogen Tutti-Passagen und einem vor allem am Schluss strahlenden Klang. Hervorzuheben sind auch die exakten und doch nie scharfen Einsätze der Bläser, die ja stets als etwas heikel gelten.

Der Geiger Christian TetzlaffMit diesem kraftvollen Beginn war die Grundlage für eine angemessene Rezeptiion des Hauptwerks dieses Abends gegeben: Beethovens Violinkonzert in D-Dur, op. 61. Dazu hatte man den international renommierten Geiger Christian Tetzlaff gewinnen können. Tetzlaff steht mit 47 Jahren auf dem Höhepunkt seiner Karriere, was nicht bedeuten soll, dass es ab jetzt abwärts geht. Vielfältige internationale Verpflichtungen führen ihn in die Musikmetropolen der Welt, er spielt mit den renommiertesten Orchestern das große Violin-Repertoire und ist auch noch intensiv als Kammermusiker tätig. Ein Vollblutmusiker also, der an diesem Abend vor dem Publikum des Rheingau-Musik-Festivals auftrat.

Beethovens Violinkonzert beginnt mit einer langen Orchestereinleitung von sage und schreibe 88 Takten, in der die Themen vorgestellt und variiert werden, bevor dann schließlich die Violine mit aufsteigenden Vorhalten einsetzt. Bei der Gesamtlänge dieses Satzes von 536 Takten verschiebt das lange Vorspiel die Maßstäbe jedoch nicht, und selbst ein langes Orchester-Zwischenspiel hat noch Platz, ohne dass die Solo-Violine in ihrer Präsenz eingeschränkt wird. Schon in diesem ersten Satz fällt auf, wie Beethoven die Violine in das Orchesterspiel integriert hat. Selten schwingt sie sich zu brillanten Sololäufen vor einem nur noch verhalten begleitenden Orchester auf; meistens kommentiert und umspielt sie die vom Orchester markant vorgetragenen Themen und fügt sich in das Klangbild des Orchesters ein.

Dirigent Jukka-Pekka SarasteDas längere Solo der Violine ist dann geprägt vom Dialog zwischen den ungleichen Schwestern Solovioline und Pauke, eine Kombination, die man wohl sonst nirgends in der Geigenliteratur findet. Und dabei gelang es Tetzlaff tatsächlich, in diesem Zusammenspiel auch noch die feinsten Töne zu produzieren, ohne dabei von der Pauke stören zu lassen. Dazwischen kamen dann auch tänzerische Passagen zum Vortrag, wobei sich die Violine und die Pauke fast wie bei einer Tanzveranstaltung die musikalischen Bälle zuspielten. Beethovens Violinkonzert lebt gerade hier von der Vielfalt der Motive und Themen, einer Vielfalt, die den Zuhörern der Uraufführung offensichtlich Probleme bereitet hat. Wie in vielen Gattungen hat Beethoven auch hier mit den Gewohnheiten des Musikbetriebs gebrochen und das bis dahin übersichtliche Schema der Solokonzerte abgewandelt.

Den zweiten Satz (Larghetto) interpretierte Tetzlaff mit einem Höchstmaß an Intensität und Innigkeit, die seinem Spiel eine ganz besondere Spannung verliehen. Hier spielte die Kunst des Pianissimo die wichtigste Rolle, und Tetzlaff erwies sich bei den leisesten und feinsten Tönen als wahrer Meister seines Fachs. Bis in die letzten Verästelungen waren die Töne zu jedem Zeitpunkt klar und verloren nie ihre innere Spannung. Das Publikum verfolgte dieses Spiel mit atem- und hustenloser Stille, was dem Gesamteindruck ausgesprochen zugute kam.

Wie ein Aufatmen ging dann der dritte Satz – ein lebhaftes Rondo – im „attacca“-Modus unmittelbar aus dem zweiten Satz hervor. jetzt konnten Orchester und Solist noch einmal die gesamte Dynamik ihrer Instrumente ausreizen, und Dirigent Saraste nutzte diese Möglichkeit, um die dynamischen Akzente des Konzerts herauszuarbeiten. Temperamentvoll und doch nie nur laut, auch im Crescendo und Fortissimo stets kontrolliert, modellierte Saraste mit seinem Orchester und dem Solisten diesen dritten Satz aus dem Notenmaterial heraus, dass es eine wahre Freude war. Christian Tetzlaff lief noch einmal zu virtuoser Höchstform auf und beendete schließlich das Konzert – nach drei typisch beethovenschen trügerischen Schlussphasen – mit einem kraftvollen Strich zusammen mit dem Schlussakkord des Orchesters. Unmittelbar darauf brach begeisterter Spontanbeifall auf den Rängen aus, der sich solange hielt, bis Christian Tetzlaff noch eine virtuose Zugabe auf seiner Geige spielte.

Nach der Pause änderte sich die musikalische Atmosphäre schlagartig. Von der Aufbruchstimmung der Aufklärung war nichts mehr zu spüren. Stattdessen verströmt Sibelius´ 2. Sinfonie in D-Dur, op. 43, geballte Wehmut und Heimwehstimmung, die immer wieder von zerrissenen Phasen unterbrochen wird. Man hat Sibelius des Öfteren programmatische Absichten à la „Weite der finnischen Landschaft“ oder „Tiefe der finnischen Seele“ unterstellt. Doch das greift zu kurz. Die Mentalität der Musiker als Seismografen der Gesellschaft hatte sich grundlegend geändert. Herrschte zu Beginn des Jahrhunderts die Aufbruchstimmung der Revolution und der Befreiung aus feudalen und autoritären Systemen vor, so beherrschte jetzt die Angst vor der rasanten industriellen Entwicklung die Menschen. In diesem Jahrhundert hatten sich die Dampfmaschine und die Elektrizität und mit diesen beiden Basistechniken eine Industriewelt entwickelt, die den meisten Menschen unheimlich und bedrohlich vorkam. So spiegelte sich in der Musik der Spätromantik oft die Sehnsucht nach einer heilen Welt, nach Innerlichkeit und alten Werten. Man kann dies leicht auch an Mahler, Brahms und Bruckner ablesen. Sibelius selbst orientierte sich stark an dem im benachbarten Russland lebenden Tschaikowsky, und tatsächlich erinnert so manche Passage in der 2. Sinfonie an die Sinfonien des Russen, vor allem an die unendliche Schwermut der „Pathétique“. Doch Sibelius ist deswegen kein Plagiator, seine Musik besitzt ausreichend innere Substanz, um sich von Tschaikowskys Sinfonien abzusetzen.

Natürlich ziehen bei den einzelnen Sätzen automatisch bestimmte Bilder vor den Augen des Zuhörers vorbei, so etwa weite Landschaften oder das Gefühl des Heimwehs im ersten, düstere Angst vor der Zukunft im zweiten oder ein schweres Unwetter mit Blitz und Donner im dritten Satz. Der vierte versöhnt dann wieder etwas mit lang gezogenen, moderaten Themenbögen, die noch einmal das Bild des ersten Satzes aufnehmen.

Saraste achtete bei seiner Interpretation darauf, trotz aller schwelgerischen Momente dieser Musik nüchterne Transparenz walten zu lassen, und arbeitete die einzelnen Themen und Instrumentengruppen deutlich heraus. Diese Musik zerfließt leicht zu einem Brei der ungeordneten Emotionen, und dem wirkte Saraste mit einer straffen Orchesterleitung entgegen. Bis zum Schluss blieben die Strukturen transparent und vermittelten den Zuhöreren einen Eindruck von dem Lebensgefühl im ausgehenden 19. Jahrhundert, das nicht umsonst den – trivialen und doch vielsagenden – Namen „fin de siècle“ trug.

Das Festival-Publikum im nahezu ausverkauften Haus zeigte sich begeistert und spendete lang anhaltenden, kräftigen Beifall.

 
Frank Raudszus

 

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