Peter Sloterdijk: „Ausgewählte Übertreibungen – Gespräche und Interviews“

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1309_sloterdijk.jpgPeter Sloterdijk: „Ausgewählte Übertreibungen – Gespräche und Interviews“

Peter Sloterdijk, Professor an der Hochschule für Gestaltung und Philosophie Karlsruhe, gilt als einer der profiliertesten Intellektuellen Deutschlands. Viele halten ihn sogar für DEN Intellektuellen, der das zeitgenössische Denken prägt. Sloterdijk ist kein Philosoph der stillen Studierstube oder gar des Elfenbeinturms. Er mischt sich in vielfältiger Form in das Zeitgeschehen ein und richtet seine philosophischen Theorien daran aus, was er vorfindet. Er stülpt nicht, wie die platonische Philosophie, seine Ideen einer im schlechtesten Fall inkompatiblen Realität über, sondern wie Aristoteles beobachtet er die Menschen und die Gesellschaft und zieht daraus seine Schlüsse und baut seine Gesellschaftstheorien auf. Er versteht sich als Anthropologe, der stets vom Menschen ausgeht. Selbst aus der „Frankfurter Schule“ hervorgegangen, hat er sich politisch und philosophisch von der Linken gelöst und bescheinigt ihr heute einen weltanschaulichen Anachronismus. Seine hellsichtige Kritik an der linken Ideologie und vor allem die sprachliche Brillanz, mit der er sie vorbringt, haben ihm die kräftige Antipathie der vereinigten (deutschen) Linken eingebracht, wie man in der „Steuerdebatte“ deutlich erkennen konnte.

Der vorliegende Band enthält eine Reihe von Gesprächen, in denen er mit dem jeweiligen Gesprächspartner philosophische und gesellschaftliche Zustände und Tendenzen herausarbeitet. Dabei ist Sloterdijk in all diesen Gesprächen die intellektuell treibende Kraft; seine Gegenüber kommen selten aus der Rolle der Stichwortgeber heraus. Die Gespräche decken einen Zeitraum von nahezu zwanzig Jahren ab. Die ersten fanden im Jahr 1993 statt, und bei so mancher Ausführung merkt man, dass seitdem zwanzig ereignisreiche Jahre ins Land gegangen sind. Wenn er etwa im Jahr 1994 über die Rolle der Medien spricht, kann er das aufkommende Internet und seine paradigmatische Bedeutung noch nicht kennen. Seine Aussagen stimmen aus der temporären Sicht natürlich mit der Realität überein, sind jedoch heute nur noch mit Einschränkungen gültig.

Bereits im Vorwort betont Sloterdijk sein Credo, dass die Philosophie keine „resultative“ Wissenschaft sei, die – wie die Naturwissenschaften – von einer gesicherten Erkenntnis zur nächsten schreitet. Die Philosophie muss sich mit dem auseinandersetzen, was ist, und muss daher unter Umständen des Öfteren wieder „bei Null“ anfangen.
In den ersten Gesprächen steht sein frühes Buch „Kritik der zynischen Vernunft“ im Mittelpunkt, in dem er dem modernen Menschen den Wunsch zugeschrieben hat, als Beobachter „am Ufer des Flusses“ zu sitzen und nicht aktiv am Leben teilzunehmen. Diese selbstgefühlte „Coolness“ gereicht dem Menschen seiner Ansicht nach langfristig zum Schaden. Man sieht hierin bereits die aktiv-engagierte Grundeinstellung Sloterdijks. Die Medien fördern jedoch geradezu diesen „coolen“ – in seiner Diktion grenzdebilen! – „lachenden Deutschen“. In dem Gespräch über „Weltfremdheit“ (1994) diskutiert er Weltzu- und -abwendung, bezeichnet die Esoterik als schlechte Philosophie und die Physik als moderne Mystik.
Eine scharfsinnige Abhandlung widmet er dem Auto (1995), das er als „platonische Privathöhle“ bezeichnet, wobei er der Formel I Paulus‘ Ausspruch „im Kreise laufen die Gottlosen“ nachruft. Der „Seelenklempnerei“ der Psychotherapie widerspricht er mit dem Satz, es gebe keine individuelle Autonomie und die einzige Therapie sei Zweisamkeit. In „Maternity Drive“ beklagt er die Überbehütung des Menschen und fordert mehr Sinn für das Offene, Freie und Riskante.

In einem anderen Gespräch kommt er auf die skandalisierte „Menschenpark“-Diskussion zu sprechen, in der ihm eine Zustimmung zur aktiven Eugenik unterstellt wurde, schildert seine eigene philosophische Entwicklung und plädiert für einen Übergang vom „Katastrophen-Sarkasmus“ zum Optimismus. Dann wieder (2001) thematisiert er  in „Reichtum und Selbstachtung“ den Unterschied zwischen Neid und Eifersucht, wobei er ersteren den Deutschen, letztere den US-Amerikanern zuschreibt. Eifersucht erzeugt Motivation zur Selbstverbesserung, Neid wünscht dem Beneideten den Verlust.

Ein langes Interview widmet er der „Verwöhnung“, die für alle Primaten – vor allem den Menschen – kennzeichnend sei. Nestbauende Tiere verlängern demnach die Jugend des Nachwuchses, was eine umfassendere Ausbildung für alle Lebenslagen ermögliche. Demgegenüber werden Fluchttiere mit nur einem kleinen Satz an Fähigkeiten geboren, die jedoch in kürzester Zeit zur Verfügung stehen. Dadurch ist der Mensch theoretisch perfektionierbar, vor allem kann er sich selbst stets verbessern. Ursprünglich hat der Mensch demnach seine „Mittellage“ zwischen Göttern und Tieren akzeptiert, später jedoch  – Sündenfall? – den Drang nach oben entwickelt, um den Göttern gleich zu werden. In diesem Zusammenhang plädiert Sloterdijk auch ausdrücklich für die Nutzung pränataler Diagnostik, da es seiner Meinung nach „kein Recht auf das Down-Syndrom“ gibt.
In einem weiteren Gespräch bezeichnet er die 68er als eine verwirrte Generation, die „tapfer aber verspätet Hitlers (Wieder-)Aufstieg verhinderten“. Diese Generation habe eine Verwöhnkultur mit Mangelfiktionen geschaffen, so dass eines der reichsten Länder der Erde sich subjektiv als Jammertal fühlen konnte.

In dem Beitrag „Deutsche wollen müssen“  thematisiert er den typisch deutschen „Hass auf Leistungseliten“, denen grundsätzlich Ausbeutung unterstellt werde. Den hart arbeitenden Wohlhabenden gebe es bei dieser Ideologie nicht. Dabei steht laut Sloterdijk heute nicht mehr die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen sondern die Ausbeutung der Natur durch den Menschen im Vordergrund. Dazu passt auch die Diskussion über die „Komparatisten“, die grundsätzlich Lebensbedingungen vergleichen (und natürlich Unterschiede anklagen). In der Maternalisierung des Staates verlangt man Verwöhnung statt Strenge und erzeugt schließlich den „unzufriedenen Zufriedenen“ („satisfaits“).

Im Jahr 2006 fand das Gespräch über Sloterdijks Buch „Zorn und Zeit“ statt, in dem er auf die gesellschaftliche Bedeutung der sogenannten „Zornbanken“ zu sprechen kommt, die den Zorn verschiedener gesellschaftlicher Gruppen sammeln und akkumulieren. Dazu gehören politische Parteien ebenso wie die Kirchen. In dem Gespräch konstatiert Sloterdijk eine fatale Komplizenschaft zwischen dem Terror und den um Aufmerksamkeit ringenden Medien. Die Thematik von „Zorn und Zeit“ wird im nächsten Interview vertieft, wo Sloterdijk die politischen Parteien als „Affektsammelstellen“ bezeichnet, die aktuellen revolutionären Aktivitäten (Paris 2005/2006) eher der Spaßkultur zurechnet und die Menschheit letztlich zur Autodidaktik verdammt sieht, da es keine absolute Wahrheit gebe.

Ein eher prekäres Thema nimmt Sloterdijk in einem anderen Gespräch mit dem „Sterben“ auf. Er betont die klaustrophobische Dimension des Sterbens und diskutiert den Antagonismus von ewigem Leben und freiwilligem Sterben. Dabei hat sich der Tod in der philosophischen Sicht im Laufe der Geschichte von einem (erleiden) Müssen zu einem (gestalten) Können gewandelt.
Die Finanzkrise und die „Schuld an den Schulden“ kommen ebenso auf den Diskussionstisch wie die Krise der abendländischen Kultur, über die Sloterdijk mit dem slowenischen Philosophen Slavoj Zizek spricht. Beide sehen eine „Futurisierung“ am Werk, bei der die Blickrichtung nicht mehr zurück geht sondern nur noch in eine erhoffte oder befürchtete Zukunft. Die Verlagerung aller Probleme in die Zukunft (Schulden!) werde zwangsläufig irgendwann zum Halt an einem „Nullpunkt“ führen, nach dem es kein Weitermachen wie bisher geben werde.  Laut Sloterdijk lebt vor allem Deutschland in einer „Phobokratie“, die die Angst vor beliebigen Katastrophen zum zentralen Agens macht.

In den „Karlsruher Gesprächen“ mit Ulrich Raulff, dem Leiter des Deutschen Literaturarchivs in Marbach, diskutieren die beiden noch einmal grundlegende Begriffe der Philosophie, so die „amechania“ (Ohnmacht) der Antike und ihre Aufhebung in der „Haltung“ bis zum letzten Augenblick. Der Begriff des Tragischen wird genau so beleuchtet wie der Unfall und letztlich der Zufall, der heute auf philosophischer Ebene das Tragische ersetzt hat. Alle diese Begriffe formieren sich um den Begriff des „Schicksals“ herum, das in der Antike Unausweichlichkeit bedeutete und im Laufe der Epochen mehrere Bedeutungswandlungen erfahren hat. Die Aufklärung hat es vergeblich durch die Vernunft ersetzen wollen, die Romantiker haben die Vernunft durch die Natur zu ersetzen versucht und die Ideologen danach – z. B. die Marxisten – durch die Geschichte. Heute sieht man den Schicksalsbegriff laut Sloterdijk eher als die Selbstbezüglichkeit komplexer sozialer Systeme, die sich nicht mehr durchschauen geschweige denn kontrollieren lassen. Bei diesen Überlegungen kommen die Diskutanten zwangsläufig auf Heidegger und Nietzsche zu sprechen und unterziehen deren Schicksalsbegriffe einer kritischen Würdigung. Dieses Gespräch lässt sich mit gutem Grund als intellektueller Höhepunkt des ganzen Sammelbandes bezeichnen, und daher steht es nicht nur wegen der zeitlichen Einordnung am Ende des Buches. Es folgen zwar noch zwei kürzere Gespräche, doch sind diese eher Ausklang als Beginn eines neuen Themenkreises.

Das Buch ist im Suhrkamp-Verlag unter der ISBN 978-3-518-42200-7 erschienen, umfasst 476 Seiten und kostet 24,95 €.

Frank Raudszus

 

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