Das Staatstheater Darmstadt inszeniert Peter Handkes „Die schönen Tage von Aranjuez. Ein Sommerdialog“
Der Österreicher Peter Handke ist bekannt dafür, alles gegen den Strich zu bürsten, seien es nun psychische, gesellschaftliche oder politische Themen. Als einer der wenigen westlichen Intellektuellen trat er vehement für den ehemaligen serbischen Machthaber Milosevic ein, als dieser vor dem internationalen Gerichtshof stand. Die Mitglieder der „Gruppe 47“ schockierte er im Jahr 1966 bei seiner ersten Teilnahme mit einer polemischen Beschimpfung anwesender und abwesender Literaten. Seine Prosa zeichnet sich durch eine streckenweise geradezu stilisierte Metaphorik aus, die den Dingen bis auf den letzten Grund zu gehen versucht und dabei keine der üblichen Gewissheiten verschont.
Schon der Titel „Die schönen Tage von Aranjuez“ ist ein bewusstes, gezieltes „Plagiat“, wenn man es denn so nennen will. Der berühmte erste Satz aus Schillers „Don Carlos“ ist zu einer solchen Ikone geworden, dass jede plakative Aneignung wie eine Provokation wirken muss. Gerade das bezweckt Handke, jedoch nicht, um Aufmerksamkeit für sein Stück zu bekommen, sondern um gerade diese Ikonographie zu untergraben. Schiller als Idealist muss den Skeptiker Handke reizen, den Autor von seinem Weimarer Sockel zu holen. Der Titel dieses Theaterstücks leistet dazu eine subtile Hilfestellung.
Die Bühne in den Kammerspielen ist als inverser Scherenschnitt angelegt. Aus der hellen Rückwand ist die Form eines Baumes herausgeschnitten, so dass der dunkle Raum dahinter eben diesen Baum aufbaut. Wer will, kann in der Holzarbeit auch einen ins Meer fließenden Fluss und Inseln vor der Mündung sehen. Dieses Vexierbild drückt bereits das Motto des Stücks und Handkes Credo aus: nichts ist so, wie es scheint, die Dinge haben stets mindestens zwei wenn nicht mehr Gesichter.
Noch während die Zuschauer hereinströmen, begeben sich die beiden Darsteller – Gabriele Drechsel und Tom Wild – auf die Bühne und schauen lächelnd ins Publikum, als wollten sie vor der Vorstellung noch etwas ansagen. Diese Präsenz irritiert, da die Grenze zwischen Realität (Darsteller) und Fiktion (Rollen) verschwimmt. Ja, Tom Wild nimmt nach dem Signal der Theatertechnik sogar sein Handy aus der Tasche, schaltet es aus und legt es beiseite. Damit gehören beide zur Schar der Zuschauer und sind doch Darsteller von Bühnenrollen.
Fast geschäftsmäßig – „fangen wir an?“ – beginnen die beiden einen Dialog, bei derm der Mann die Fragen stellt und die Frau antwortet. Es scheint eine Vereinbarung zu bestehen, dass der Mann nur fragen darf und die Frau antworten muss; denn sie weist ihn im Laufe der nächsten Stunde zwei Mal mit Verweis auf die Vereinbarung zurecht, wenn er spontan Behauptungen aufstellt, und er revanchiert sich, wenn sie auf seine Fragen nicht antwortet. Da den Rollen keine sozialen Funktionen oder Stellungen zugewiesen sind – „Die Frau“, „Der Mann“ -, kann man über die Situation nur spekulieren. Es könnte eine Sitzung zwischen einem Psychiater und einer Patientin sein; für eine kriminalistische Befragung ist der Dialog zu privat und psychologisierend, nicht zielorientiert genug. Handke lässt diese Frage bewusst offen, weil es ihm nicht um die konventionelle Erzählung einer Geschichte zwischen einem Mann und einer Frau geht, sondern um die archetypische Situation zwischen den Geschlechtern.
Der Mann tritt jedenfalls nicht als realer oder potentieller Liebhaber auf, sondern als Fragender mit einer fast neutral zu nennenden Neugier. Er möchte alles über die Geschichte dieser Frau wissen, vornehmlich ihre erotische Vergangenheit. Schon seine erste Frage zielt auf ihr erstes Liebeserlebnis, wobei er konkret auf physische Aspekte abzielt. Sie jedoch verlegt dieses Erlebnis auf eine Schaukel, als sie zehn Jahre alt war. Beim Schaukeln habe sie eine plötzliche Gefühlsaufwallung erlebt, die sie nachträglich nur mit einer ersten Liebesnacht vergleichen könne. Schon hier klaffen die ersten Verständnisschwierigkeiten zwischen Mann und Frau. Der Mann will dahinter gleich eine männliche Beteiligung sehen – er kaschiert seinen Wunsch der männlichen Dominanz mit sachlicher Abklärung -, sie aber versucht dieses plötzliche, elementar körperliche Liebesgefühl als ein autonomes Erlebnis zu erklären.
In der Folge bewegt sich das Gespräch in konzentrischen Kreisen um das Thema der Beziehungen zwischen den Geschlechtern. Das Wort „Liebe“ wird dabei lange Zeit bewusst ausgepart – oder ausgesperrt? Als der Mann dann schließlich dieses Wort unmittelbar ins Gespräch wirft, erstarrt die Frau buchstäblich, da dieses Wort sie zutiefst verwirrt. Langsam schält sich heraus, dass sie sich Liebe in irgendeiner nicht näher zu definierenden Foirm gewünscht, aber nie erlebt hat. Die durchaus nicht wenigen Männer in ihrem Leben nennt sie Komplizen gegen die Welt. Im Liebesakt hat sie sich mit den Männern an der Welt gerächt; nach diesem Racheakt hatten die Männer ausgedient – wie Drohnen – und mussten verschwinden. Wofür sich die Frau gerächt hat oder rächen wollte, bleibt offen, da es hier nicht um einen indivuellen Fall von Unrecht und Rache geht, sondern um die Stellung von Frau und Mann in der Welt. Dass diese Welt die persönlichen Sehnsüchte und die allgemein-ethischen Maßstäbe nur in sehr eingeschränktem Maße berücksichtigt, kann man guten Gewissens als Gemeinplatz betrachten, und daher muss Handke auch keine konkrete Begründung liefern. Die wäre immer individuell und damit ephemer. Die Unzulänglichkeit der Welt ist derart fest im Bewusstsein der Frau verankert, dass sie zu Rachestrategien greifen muss, da sie sich anders nicht wehren zu können glaubt. Der Mann wiederum als selbstdefinierter Gestalter will stets den Grund wissen, um das Problem zu lösen. So stellt der Mann immer wieder neue Fragen, und wenn die Frau nicht antwortet, verlässt er sie auch einmal; dafür läuft Tom Wild einmal um die ganze Zuschauertribüne herum, während Gabriele Drechsel schweigt, beide Hände an den Schläfen.
Doch irgendwann zieht die Frau den Mann in ihren Bann. Plötzlich erzählt er von Aranjuez, das er einmal besucht habe und dabei einem großen Missverständnis aufgesessen sei. Die sogenannten „Arbeiterhäuser“ seien keine einfachen Katen sondern Villen gewesen, die ihren Namen nur wegen der Bilder von Arbeitern trugen. Das ist bitterböse Ironie ganz nach Handkes Art: eine Pointe, verpackt in ein metaphorisches Kleid. Mit dieser Illusion sind für den Mann auch „die schönen Tage von Aranjuez“ zu Ende, er muss sich den Gegebenheiten stellen. Die Frau wiederum hört seine Erzählung nur mit einem Ohr. Es ist wiederum nur eine Männererzählung von „falschen Tatsachenbehauptungen“, die man richtigzustellen hat. Sie selbst lebt jedoch in einer Welt, zu der sie nie Zugang gefunden hat und die so etwas wie Liebe nie bis zu ihr hat dringen lassen. Sie weiß nicht warum, leidet aber darunter.
Am Ende stehen beide nebeneinander, distanziert wie von Beginn an, und wiederholen – eher desillusioniert als verbittert – die Feststellung über die verschwundendenen schönen Tagen von Aranjuez. Regisseur Martin Ratzinger hat dieses Stück zusammen mit den beiden Darstellern als reines Sprechstück ohne überflüssige Handlungselemente oder Requisiten auf die Bühne gebracht. Der inverse Baum wirkt zusammen mit den Äpfeln an seinen Wurzeln wie ein Zitat der Bibel – Adam und Eva und der Apfel. Diese Aufführung stellt allerdings höchste Anforderungen an das Publikum, da man dem Dialog nicht nur Wort für Wort folgen sondern auch Handkes komplexe Metaphorik und seine Anspielungen entschlüsseln muss. Das gelingt natürlich bei der Premiere nur unvollkommen, Wahrscheinlich muss man das Stück öfter sehen, um hinter alle Details zu schauen. Gabriele Drechsel und Tom Wild gelingt es jedoch, eine Ahnung von Handkes Sicht auf die Beziehungsgeflechte zwischen den Geschlechtern und vor allem auf deren unterschiedliche Befindlichkeiten in Bezug auf Liebe und Erotik zu vermitteln. Ein unterhaltsamer Theaterabend ist es jedoch nicht, sondern richtige Arbeit.
Das Premierenpublikum zeigte sich trotz des hohen Anspruchs begeistert und spendete allen Beteiligten kräftigen Beifall.
Frank Raudszus
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