Nicolas Wolz: „Und wir verrosten im Hafen“

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Eine Aufarbeitung der deutschen Flottenpolitik vor dem und während des Ersten Weltkriegs

Die Skagerrakschlacht am 31. Mai und 1. Juni 1916 gilt als der Höhepunkt des  Seekrieges 1914-18. Im Gedächtnis beider Völker – England und Deutschland – hat diese Schlacht eine je eigene Bedeutung erhalten, die sie lange Zeit jeweils zur Ikone eines vermeintlichen Sieges oder des Seekrieges überhaupt machte. Damit nimmt diese Schlacht einen Stellenwert ein, der ihr so nicht zukommt. Dem Autor geht es zwar nicht vorrangig um diese Schlacht, aber es stellt sich im Zuge der Lektüre heraus, dass sie während des Krieges und sogar bereits davor der Fluchtpunkt aller maritimen Überlegungen war, wenn auch nicht als konkrete „Skagerrakschlacht“, sondern als die ultimative Seeschlacht, die alle Probleme lösen sollte.

Wolz holt bei der Bewertung der Seerüstung von England und Deutschland weit aus. Bis 1888 waren die Verhältnisse in Europa klar: England war Welt- und Seemacht, Deutschland aufstrebende Kontinentalmacht, und es bestanden keine oder wenig Interessenkonflikte. Mit der Thronbesteigung von Wilhelm II. änderte sich die Situation jedoch grundlegend. Wilhelm II. war ein Flotten- und Seemachtsnarr. Außerdem vertrat er die in Deutschland natürlich populäre Ansicht, dass Deutschland im Konzert der Weltmächte in erster Reihe mitspielen müsse, sich „einen Platz an der Sonne erkämpfen müsse“. Dazu gehörten damals möglichst viele Kolonien, die man ausbeuten konnte, und dafür benötigte man eine starke Flotte. Damit schloss sich der Argumentationskreis. 

Wilhelm II., der selbst über einen überschaubaren Intellekt verfügte, fand in Admiral v. Tirpitz einen „Bruder im Geiste“, der die Allüren seines obersten Befehlshabers wohl zu nutzen wusste. Tirpitz war ein Machtmensch, der die Überlegenheit der englischen Seemacht nicht ertragen konnte und wollte. Er überzeugte Wilhelm II. mit Leichtigkeit davon, dass man eine Schlachtflotte benötigte, die England eine militärische Auseinandersetzung scheuen lassen und sie förmlich dazu zwingen würde, Deutschland als gleichrangigen Partner zu akzeptieren. Allein der gesunde Menschenverstand und die Erfahrung aus Sport und Wirtschaft zeigen, wie naiv diese Annahme war. Niemand schaut beim Aufwachsen eines mächtigen Konkurrenten einfach nur zu, sondern versucht diesen nach allen Regeln der Kunst klein zu halten, notfalls mit unlauteren Mitteln, das heißt Gewalt.

So schaute auch England misstrauisch auf Deutschland und startete Anfang des Jahrhunderts mit der Entwicklung neuer schwerer Kampfschiffe einen Rüstungswettlauf zur See, der schlagartig alle bisherigen Flotten – auch die englische – entwertete. Natürlich hielt Deutschland mit, und der Wettlauf nahm seinen fatalen Weg. Tirpitz und der Kaiser schafften es  – aus heutiger Sicht fast unverständlich – das deutsche Parlament mehr als einmal hinter das Licht zu führen und gewaltige Flottenbauprogramme durchzudrücken, die dazu führten, dass der nationale Haushalt zeitweise bis zu 90% aus Rüstungsausgaben bestand.

Tirpitz hatte jedoch neben der politischen Kalkulation des kampflosen englischen Einknickens eine zweite schwerwiegende Annahme getroffen. Da er als Militär natürlich einen Seekrieg gegen jeden möglichen Gegner durchspielen musste, entwickelte er auch eine Strategie gegen England, obwohl zu der Zeit niemand in Deutschland – auch nicht Wilhelm II. – einen Krieg gegen England plante oder auch nur wollte. Tirpitz´ Strategie baute auf der Annahme auf, dass England im Falle eines Krieges die Entscheidung in einer großen Schlacht in der Nordsee suchen würde. Anlass dazu würde eine enge Seeblockade der Deutschen Bucht bei Helgoland sein. Die deutsche Flotte musste also eine so starke Schlacht(schiff)-Komponente enthalten, dass sie England in dieser entscheidenden Schlacht wenn nicht besiegen so doch entscheidend schwächen konnte.

Entsprechend baute Tirpitz eine Schlachtflotte auf, die 1914 zumindest diese potentiellen Fähigkeiten hatte, wenn sie auch noch wesentlich schwächer war als die englische. Die Bevölkerung und vor allem das Offizierskorps wurden auf diese Strategie eingeschworen und fieberten der entscheidenden Schlacht entgegen. Die englische Admiralität durchkreuzte jedoch diese Strategie, indem sie eher nüchtern, das heißt wirtschaftlich kalkulierte. Obwohl das Offizierskorps der Royal Navy – im Gedenken an Nelsons Sieg bei Trafalgar – ebenfalls die große Entscheidungsschlacht herbeisehnte, in der man sich bewähren und Ruhm ernten könnte (oder untergehen würde), entschied sich die oberste Marineführung für eine Fernblockade zwischen den Shetland-Inseln und Norwegen. Das hatte für die Versorung Deutschlands aus Übersee den selben Effekt, da man ja auch den Ärmelkanal sehr leicht absperren konnte. Da die englische Flotte in Scapa Flow an der nördlichsten Spitze der britischen Insel lag, ließ sich die Blockade ohne lange Anreisewege organisieren, während die deutsche Flotte allein eine Anreise von 600 Seemeilen bis zu einer Schlacht benötigen würde, dort eventuell auf den Gegner würde warten müssen und dann vor der englischen Küste nach Deutschland hätte zurücklaufen müssen. Das war angesichts der englischen Überlegenheit selbst für das Heldenpathos eines Tirpitz zu selbstmörderisch und kam daher nicht in Betracht. Die deutsche Flotte erhielt also nicht die Gelegenheit zu dieser großen Schlacht und „rostete im Hafen dahin“, wie der Titel des Buches besagt. Es vergingen fast zwei Jahre, ehe beide Flotten zum ersten Mal in voller Stärke am Skagerrak aufeinandertrafen. Dort erzielten die Deutschen zwar einen taktischen Sieg, weil sie mehr feindliche Schiffe versenkten als ihrerseits die Engländer, aber an der strategischen Situation änderte sich nichts, und Kaiser Wilhelm hielt die Flotte fürderhin im Hafen zurück, weil er ihren vollständigen Verlust nicht risklieren wollte. Sie sollte als „fleet in being“ allein durch ihre Existenz gegnerische Kräfte binden.

Ein solcher Status war natürlich für die Besatzungen und vor allem für die ruhmsüchtigen Offiziere zutiefst demütigend. Übrigens galt das auch für die Engländer, deren Flotte ebenfalls als „fleet in being“ für den Rest des Krieges in Scapa Flow mehr oder minder untätig herumdümpelte. Die Hauptlast des Krieges trugen beiderseits die Bodentruppen in Frankreich, und täglich lasen Offiziere auf beiden Seiten des Krieges von den Schrecken und Strapazen an der Westfront, wenn sie sich beim Frühstück in aller Ruhe die Zeitungen zu Gemüte führten. Vor allem die Offizierskorps, die in beiden Marinen wesentlich mehr Privilegien hatten als die Mannschaften und Unteroffiziere, führten ein geregeltes und bequemes Leben mit abendlicher Rückkehr zur Familie, großzügiger Unterbringung sowie bester Verpflegung. In der englischen Navy hatte sich über die Jahrhunderte ein respektvolles Miteinander der Offiziere und Mannschaften entwickelt, so das trotz der klaren Standes- und Einkommensunterschiede die elementaren Bedürfnisse der Mannschaften berücksichtigt wurden und damit ein Mindestmaß an Motivation eingehalten wurde. In Deutschland gab es diese Tradition nicht. Die Offiziere kamen vorwiegend aus dem Adelsstand oder aus dem gehobenen Bürgertum und betrachteten die Mannschaften nur als Befehlsempfänger. Vor allem die jungen Offiziere auf den größeren Schiffen entwickelten in dieser Situation eine penetrante Arroganz und Überheblichkeit, die zusammen mit den geradezu paradiesisch anmutenden Unterbringung und Versorgung der Offiziere wie die Lunte an einem Pulverfass wirkten.

Wolz zeigt die sozio-psychologische Entwicklung an Bord der Schlacht- und Kreuzerflotte anhand von Tagebüchern damals beteiligter Offiziere und Mannschafte, angefangen bei Admiral v. Hipper, über eine Reihe von Offizieren mittlerer Dienstgrade bis hinunter zu einfachen Matrosen. Schikanen aller Art von Offizieren an Untergebenen waren an der Tagesordnung, und die Mannschaften hatten kaum die Möglichkeit, ihre trostlosen, überfüllten Unterkünfte an Bord für längere Zeit zu verlassen. Das musste im Verein mit der militärischen Untätigkeit und der sich immer schlechter entwickelnden Lage an der Landfront und in der Bevölkerung irgendwann zu einer Eruption führen. Als dann die Marineleitung im Herbst 1918 entschied, die „Ehre“ der Streitkraft in einem letzten, sinnlosen Aufoperungsakt zu retten, streikten die Matrosen flächendeckend und setzten so das Zeichen zum Ende des Krieges und des Kaiserreiches.

Die „Ehre“ spielt in all den Tagebüchern der Marineoffiziere eine zentrale Rolle. Wurde am Anfang des Krieges noch der militärische Sinn der ein oder anderen Aktion diskutiert, so rückte mit fortschreitender Kriegsdauer die Ehre als Selbstzweck in den Mittelpunkt der Betrachtungen. Aus den Notizen der Offiziere geht eindeutig hervor, dass auch ein sinnloser Tod in einer militärisch ebenso sinnlosen Schlacht auf jeden Fall dem untätigen Herumsitzen vorzuziehen war. So verurteilten die Offiziere auch die aus heutiger Sicht absolut verständliche Rebellion der Mannschaften aufs Schärfste und betrachteten sie als das Ende aller Moral, Zucht und Sitte. Auch die geplante „Selbstmordaktion“ der Flotte im Oktober 1918 billigten die Offiziere nicht nur sondern forderten sie geradezu vehement. Wolz zeigt in den Tagebuch-Auszügen deutlich, dass hier eine ganze Kaste nicht nur dem Monarchen geradezu hörig waren sondern auch ein seltsames „Heldentod“-Bild pflegten. Das lässt sich wahrscheinlich nur aus der Unkenntnis eines wirklichen (See)Krieges – seit 1871/71 herrschte Frieden – und einer Verklärung kriegerischer Aktivitäten erklären.

Wolz zeigt auch die Ironie der Seekriegsgeschichte, dass ausgerechnet die verspottete Waffengattung der U-Boote (gemein, hinterrücks, etc.) zum Hoffnungsträger der Marine wurde. Sie als einzige – und mit Abstrichen die kleineren Einheiten wie Torbedoboote oder Minensucher – fuhren täglich hinaus und suchten den Feind. Der Dienst auf einem U-Boot wurde im gesamten Seeoffizierskorps zum größten Wunsch, um endlich den Feind „schlagen“ zu können. Die doppelte Ironie wollte es dann auch, dass ausgerechnet der rücksichtslose Einsatz dieser Waffe – der „uneingeschränkte U-Boot-Krieg“ – die USA in den Krieg eintreten ließ und zur Niederlage des Heeres und damit zum Verlieren des Krieges führte.

Eine späte Genugtuung konnten die deutschen Offiziere jedoch für sich verbuchen. Aus Frustration über den kampflosen Sieg über die Deutschen hatte die Royal Navy durchgesetzt, dass die deutsche Flotte sich unter höchst demütigenden Umständen in englische Internierung begeben musste. Laut entsprechender Tagebucheintragungen hoffte so mancher englische Offizier im Stillen, ihre deutschen „Kollegen“ würden den Befehl zur kampflosen Übergabe ignorieren und auf eigene Faust zum „letzten Gefecht“ hinausfahren. Doch dazu waren die deutschen Seeoffiziere entweder zu müde, zu obrigkeitshörig oder vielleicht auch zu vernünftig. Doch an dem Tage des Friedensschlusses von Versailles, an dem die Übergabe fast der gesamten Flotte verfügt wurde, versenkte sich die internierte Flotte vor den Augen ihrer englischen Bewacher selbst. So hatten sie, ohne einen Schuss abzugeben, am Ende den Siegern ein Schnippchen geschlagen. Die Royal Navy musste den Krieg nicht nur ohne Entscheidungsschlacht beenden sondern auch noch das Faustpfand aus der Hand geben. Und wie so mancher höhere Navy-Offizier dunkel ahnte, begann damit der Abstieg Englands von einer weltweiten Seemacht zur europäischen Mittelmacht.

Nicolas Wolz hat nicht nur die historischen Ereignisse um die deutsche und englische Flotte im Ersten Weltkrieg detailliert analysiert und zusammengefasst, er hat vor allem zum ersten Mal in diesen Rückschauen systematisch die Beteiligten persönlich zu Wort kommen lassen und vermittelt dadurch einen repräsentativen Eindruck von Stimmung und Mentalität in beiden Marinen.
Wer an zusätzlichen Detailinformationen über dieses Kapitel deutscher Geschichte interessiert ist, kann entweder das umfangreiche Literaturverzeichnis zu Rate ziehen oder hier nachschlagen.

Das Buch „Und wir verrosten im Hafen“ ist im Deutschen Taschenbuchverlag (dtv) unter der ISBN 978-3-423-28025-9 erschienen, umfasst 350 Seiten und kostet 21,990 €.

Frank Raudszus

 

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