Christopher Clark: „Die Schlafwandler“

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 Eine detaillierte, unvoreingenommene Genealogie des Ersten Weltkrieges

1401_SchlafwandlerIn diesem Jahr jährt sich zum hundertsten Male der Beginn des Ersten Weltkrieges, den man – wohl zu Recht – als „Ur-Katastrophe“ des 20. Jahrhunderts bezeichnet hat. Dieser Krieg hat nicht nur die russische Revolution, sondern vor allem seinen Nachfolger, den Zweiten Weltkrieg, hervorgebracht, aus dem dann wieder die Spaltung der Welt in die beiden Blöcke und eine Reihe von Stellvertreterkriegen erwachsen sind. Wohl kaum ein Ereignis hat eine solch umfassende Literatur  – politisch-historischer, militärischer, gesellschaftlicher und nicht zuletzt belletristischer Art – hervorgebracht, und so verwundert es ein wenig, dass zum hundertsten Jahrestag noch einmal die Entstehungsgeschichte aufgearbeitet wird. Das hat jedoch einen guten Grund, denn die vorhandene Literatur ist nicht immer frei von vorgefassten Meinungen, die meist aus politischen, emotionalen oder gar ideologischen Verfassungen der Autoren herrühren. Angesichts der hohen Intensität dieses Ereignisses und seiner Folgen ist es wohl vor allem für Angehörige der unmittelbar betroffenen Nationen schwierig, eine wirklich unvoreingenommene Sicht einzunehmen.
Ein wichtiges Element bei der Bewertung dieses Krieges ist die Schuldfrage, die es so davor nicht gegeben hatte. Bis weit ins 19. Jahrhundert hinein lagen Kriege im Ermessen einer der mehr oder minder autoritären Regierungen. Sie entstanden ganz vordergründig aus – meist territorialen – Interessenkonflikten und wurden auch als solche geführt. Um „Schuld“ im moralischen Sinne ging es dabei selten, denn die kriegführenden Parteien sahen in dieser Art der Auseinandersetzung eine legitime Art und Weise, die eigenen Interessen durchzusetzen. Am Ende nahm sich der Sieger – je nach Umfang des Sieges – seinen Teil, und der Verlierer bezahlte mit Land und Geld. Das Volk – ob unmittelbar am Kampf beteiligt oder nicht – litt, war jedoch an der Entscheidung nicht beteiligt. Soldaten und Zivilbevölkerung waren Verfügungsmasse der jeweiligen Potentaten. Das war allerdings nur möglich, da es damals noch keine mediale Öffentlichkeit gab, die quasi in „Echtzeit“ die Hintergründe der auftretenden Konflikte und ihre Bewältigung darstellen und diskutieren konnte. Wegen beschränkter Transportmöglichkeiten gab es keine überregionale Tagespresse; nationale und internationale Ereignisse ließen sich nur – wenn überhaupt – im Nachhinein beschreiben und bewerten, die Tagesereignisee beschränkten sich auf das Lokale.

Spätestens mit Beginn des 20. Jahrhunderts änderte sich das jedoch drastisch. Die Tagespresse war jetzt im nationalen Alltag in der Fläche derartig präsent, dass keine Regierung mehr die mediale Wirkung ihrer Tätigkeit vernachlässigen konnte. Damit erhielt auch die Begründung politischer Entscheidungen – vor allen anderen der Krieg – ein völlig neue Bedeutung. Das führte auch dazu, dass während und vor allem nach einem Krieg die Frage der Kriegsschuld in den Mittelpunkt trat, denn irgendjemand musste die gewaltigen finanziellen Lasten übernehmen, die der Bevölkerung zugemutet worden waren, oder man musste zumindest auf den Schuldigen verweisen können.

Nach dem Ersten Weltkrieg lag es daher nahe, dass die Siegermächte die gesamte Kriegsschuld auf die Verlierer abwälzen würden, was sie im Versailler Vertrag denn auch taten und sowohl Deutschland als auch Österreich-Ungarn als den für schuldig Erkannten ungeheure Lasten aufbürdeten und ihre territoriale Integrität massiv beschnitten. Dies führte natürlich zu heftigen Gegenreaktionen der Betroffenen, die sich sowohl in der Fachliteratur über den Ersten Weltkrieg als auch in der Tagespolitik niederschlugen und über die Machtergreifung der Nationalsozialisten schließlich in den Zweiten Weltkrieg führten. Wenn auch die „Schuld“ an diesem Krieg eindeutig das Deutsche Reich trägt, so waren dennoch die demütigenden Bedingungen des Versailler Vertrags eine ihrer grundlegenden Voraussetzungen. Die Schuldfrage des Ersten Weltkrieges blieb davon jedoch nach dem Zweiten Weltkrieg weitgehend unberührt. Es lag nahe, dass sich die Historiker der Siegermächte – in ihren nationalen Kontext eingebunden – nicht massiv für eine Neubewertung einsetzten. Auf der anderen Seite verhinderte die unbestrittene Schuld der Deutschen am und im Zweiten Weltkrieg, vor allem die Vernichtung der Juden, eine vorurteilslose Beschäftigung mit dem Ersten Weltkrieg. Jede „Relativierung“ deutscher Schuld hätte angesichts der moralischen Last des Zweiten Weltkriegs wie Revanchismus ausgesehen. Das berechtigte schlechte Gewissen der historischen Zunft verhinderte eine nüchterne Bewertung, und die Schuldtheorie des deutschen Historikers Fritz Fischer, der den imperialistischen Expansionsdrang des wilhelminischen Reichs als hauptsächlichen Kriegsgrund ausgemacht hatte, galt nach heftigen Kontroversen bis vor Kurzem als die gängige Kriegsschuldthese. Auch aus Karrieregründen wagte in den letzten Jahrzehnten kein ernstzunehmender Historiker, diese These anzuzweifeln.

Dieser Sicht der Entstehung des Ersten Weltkrieg setzt jetzt der australische, in Cambridge lehrende Historiker Christopher Clark seine  eigene, weit aufgefächerte Perspektive entgegen. Dabei hat er sich einer umfassenden Primär- und Sekundärliteratur bedient, erstere vor allem aus Tagebüchern und Erinnerungen vieler Entscheidungsträger aus der Zeit vor und nach dem Ersten Weltkrieg. Über hundert Seiten für Anmerkungen, die im Wesentlichen auf die Quellen der jeweiligen Aussagen verweisen, zeigen den Aufwand und die Gründlichkeit dieser Recherchearbeit. Dazu kommen noch ein vierzigseitiges Literaturverzeichnis sowie ein fast zwanzigseitiges Register.  Man kann Clark also kaum vorwerfen, sich zu wenig auf Fakten und Originalaussagen abgestützt zu haben. Dabei unterzieht er die Aussagen der „Tatbeteiligten“ durchaus einer kritischen Würdigung hinsichtlich subjektiver Sicht und apologetischer Absichten, vor allem im Falle später entstandenen Memoiren aus der Kenntnis der historischen Entwicklung. Am aufschlussreichsten sind natürlich die Tagebuchnotizen der Politiker aus der Vorkriegszeit, bei der in den meisten Fällen noch die „Ehrlichkeit des Augenklicks“ vorherrscht. Hier zeigen viele Politiker ihre wahre Sicht der Dinge, die nicht durch taktische Rücksichten oder Rechtfertigungsversuche verzerrt ist.

Clark beginnt mit einer ausführlichen Beschreibung des serbischen Nationalismus und Panslawismus, den er als einen Grund für die Katastrophe von 1914 ansieht. An der historischen Entwicklung dieses Balkanstaates im 18. Jahrhundert weist er exemplarisch die Entstehung einer ethnischen „Reinheitsideologie“ nach, die zwar in Serbien entstand, jedoch im gesamten slawischen Raum viele Freunde fand. Der Mord in Sarajevo war nicht eine Augenblickstat, sondern logisches Ergebnis einer von höchsten serbischen Stellen geförderten Absicht, die von Österreich-Ungarn „unterdrückten“ Serben zu befreien und in einem großserbischen Reich zusammenzuführen.

Im Anschluss daran beschreibt er die österreichisch-ungarische Doppelmonarchie, die aufgrund der vielen in ihr beheimateten Ethnien und der daraus resultierenden Zentrifugalkraft nur noch mühsam zu regieren war. Die von den Ungarn erzwungene, weit gehende Selbständigkeit verzögerte darüber hinaus sämtliche Entscheidungsvorgänge, was sich im Juli 2014 als fatal erweisen sollte. Aus diesen beiden Kapiteln geht auch klar hervor, dass die Morde von Sarajevo der Höhepunkt einer langen Entwicklung waren und dass Serbien für den Fortbestand der k.u.k-Monarchie ein ernsthaftes Risiko darstelle, das man nicht mehr mit Lang- und Großmut „aussitzen“ konnte. Ausdrücklich betont Clark die berechtigten politischen Interessen der k.u.k.-Monarchie, die von den anderen Mächten damals jedoch weitgehend ignoriert wurden, da man dieses Staatengebilde sowieso für „überholt“ und dem Untergang geweiht hielt.

Auch die beiden Balkankriege Anfang des 20. Jahrhunderts spielen für Clark eine große Rolle für die Entstehung des Ersten Weltkrieges, da sie nicht nur den Balkan sondern das gesamte europäische System entscheidend destabilisierten. Nachdem Serbien, Bulgarien und Griechenland im ersten Balkankrieg dem geschwächten osmanischen Reich große Teile des Balkans abgenommen hatten, gerieten sie sich im zweiten Balkankrieg untereinander über die Verteilung der Beute in die Haare und riefen dadurch Österreich-Ungarn und Russland auf den Plan. Serbiens Plan, Albanien zu annektieren und damit Zugang zur Adria zu erlangen, berührte wegen der feindlichen Haltung Serbiens die Interessen Österreich-Ungarns unmittelbar.

In mehreren zentralen Kapiteln geht Clark detailliert auf die Beziehungen zwischen den europäischen Staaten und die daraus sich ergebenden Bündnissysteme ein. Frankreich war nach der Demütigung von 1870/71 von Revanchegefühlen gegen Deutschland erfüllt. Die unerwartete militärische Niederlage, der Verlust Elsass-Lothringens und das plötzliche Auftreten eines mächtigen Staates im Osten, wo Frankreich vorher stets nur eine beliebig manipulierbare Pufferzone gegen Russland gesehen hatte, verletzten den französischen Nationalstolz gleich dreifach. Frankreichs gesamtes politisches Streben bestand vor 1914 in der Eindämmung, wenn nicht Vernichtung Deutschlands. Danach betrieb es auch seine Bündnispolitik. Österreich-Ungarn und der Balkan waren dagegen vernachlässigbare Grüßen.

Russland hatte sich schon seit der Zeit Peter des Großen darum bemüht, aus seiner eingeengten Lage ohne Meereszugänge herauszukommen. Am Beispiel Englands hatte man die Bedeutung von Seemacht erkannt, verfügte aber selbst – zumindest im europäischen Raum – über keinen freien Seezugang. Im Norden verhinderten die Eislage und die geringe Erschließung des russischen Nordens einen freien, jederzeitigen Zugang zum Meer, in der Ostsee standen die engen Ostseezugänge und die sie bewachenden Mächte Deutschland, Schweden, Dänemark und Norwegen und zuletzt auch noch England im Wege, und das Mittelmeer verschlossen Bosporus und Dardanellen, vom britischen Gibraltar am Ausgang zum Atlantik ganz zu schweigen.

Daher sah Russland im Balkankrieg die große Chance, Kontrolle über die türkischen Meerengen zu gewinnen. Die panslawische Freundschaft zu Serbien war dabei eine große Hilfe und eine Schwächung Österreich-Ungarns, das sich als Nachfolger des osmanischen Reichs im Balkan einschließlich der Meerengen zu etablieren drohte, ein strategisches Ziel. Da lag ein enges Bündnis zwischen Russland und Serbien nahe. Frankreich hatte die Situation schnell erkannt und suchte die Nähe Russlands. Beide hatten die selben Gegner, denn das Deutsche Reich galt auch in Russland als der „Drahtzieher“ hinter dem Bündnis zwischen den „Mittelmächten“ Deutschland und Österreich-Ungarn.

Bismarck hatten ein Bündnis zwischen Frankreich und Russland wegen des Albtraums eines drohenden Zweifrontenkrieges stets zu vermeiden versucht. Doch nach dessen erzwungenem Rücktritt verzichtete sein Nachfolger bzw. Wilhelm II. auf die Verlängerung des „Rückversicherungsvertrages“ mit Russland und machte damit den Weg für das französisch-russische Bündnis frei. Doch damit nicht genug: Wilhelm II. hatte England stets als befreundete Nation gesehen, mit der es keine größeren Konflikte gab. Wilhelms unglückliche Marinebegeisterung und das deutsche Streben nach eigenen Kolonien – Stichwort „Platz an der Sonne“ – änderten die Situation jedoch gravierend, ohne dass die Deutschen sich dessen bewusst wurden. Clark macht anhand vieler Dokumente deutlich, dass die Engländer ihre weltweite Vormachtstellung – vor allem zur See – als natürlich und gottgegeben betrachteten und jeglichen „Konkurrenzversuch“ einer anderen Nation als Affront betrachteten. Dass man sich mit Frankreich als kolonialem Konkurrenten herumschlagen musste, reichte bereits. Deutschland jedoch, dessen Machtzuwachs im Zentrum Kontinentaleuropas die Engländer sowieso schon misstrauisch beäugten, sollte nicht auch noch im kolonialen Konzert mitspielen. Clark belegt diese britische Arroganz imperialer Macht anhand vieler Beispiele, zu denen auch der berüchtigte „Panthersprung von Agadir“ gehört. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts begannen England, Frankreich und Italien auf geradezu skrupellose imperialistische Weise, Afrika unter sich aufzuteilen. In einer ersten Konferenz, an der auch Deutschland teilnahm, wurden entsprechende Grenzen vereinbart, die Frankreich jedoch 1911 – nach heimlicher Absprache mit England – durch die Besetzung weiter Teile Marokkos ignorierte. Deutschland schickte daraufhin das veraltete Kanonenboot „Panther“ als Warnung und zur Wahrung der eigenen Interessen nach Agadir. Ob diese Aktion politisch klug oder auch nur Ausdruck imperialer Absichten war, bleibt dahingestellt, die  Brandmarkung dieser Aktion als provozierenden Akt durch die anderen Mächte war jedoch mehr als scheinheilig, waren sie doch die eigentlichen Urheber der Krise. Denn England sah dahinter den Versuch Deutschlands, Agadir als deutschen Hafen zu etablieren, was aus strategischen Gründen unbedingt zu verhindern war. Clark zeigt allein durch die Darlegung der Tatsache, dass England als Usurpator zahlreicher strategisch wichtiger Positionen – etwa Gibraltar – allein aus machtpolitischen Gründen die Marokkokrise zusammen mit Frankreich hochspielte, wie asymmetrisch die politischen Kriterien damals verteilt waren.

Der wesentliche Grund für die Gegnerschaft Englands war jedoch die deutsche Flottenrüstung, die aus der so naiven wie gefährlichen Annahme entstand, man könne England durch diese Rüstung zu einer Akzeptanz deutscher – u. a. kolonialer – Ansprüche zwingen. Das Gegenteil war der Fall und trieb England in die offenen Arme Frankreichs.

Doch die „Triple Entente“ aus England, Frankreich und Russland war bei weitem nicht so fest gefügt, wie viele dachten. Zwischen Russland und England waren aufgrund der imperialen Ausdehnung beider Länder in Asien – Indien, Persien und China – mehrere Konfliktzonen entstanden, die verschiedene englische Politiker daran denken ließen, sich von Russland ab- und Deutschland zuzuwenden, doch die deutsche Flottenrüstung sowie die unglücklichen Auftritte von Wilhelm II. konterkarierten diese Ansätze. Aus dem gleichen Grund gab es in Russland deutschfreundliche Überlegungen, doch diese scheiterten immer wieder an dem festen Bündnis zwischen Deutschland und Österreich-Ungarn. Clark zeigt anhand der Dokumente deutlich, dass Deutschland nicht aus einer mystischen Nibelungentreue an diesem Bündnis festhielt, sondern weil es fürchtete, bei einem Verlust dieses Partners in Europa vollständig isoliert dazustehen. Wie auch die anderen Länder misstraute das deutsche Reich jedem anderen Staat und igelte sich in dem Zweierbund ein. Dieser war eigentlich zusammen mit Italien ein Dreierbund, doch Italien lag wegen einiger adriatischer Territorien mit Österreich-Ungarn in einem latenten Streit, der die Italiener permanent zur „Triple Entente“ schielen ließ, der sie sich schließlich im Krieg auch anschlossen.

Die Situation in Europa war daher im Frühjahr 1914 bereits wesentlich stärker angespannt, als der äußere Anschein von Frieden und Wohlstand vermuten ließ, und beide Bündnisse versuchten, das jeweils andere in die Rolle des Aggressors zu manövrieren, um sich selbst mit der Pflicht zur Defensive für die unübersehbaren Rüstungsbemühungen zu rechtfertigen. Clark zeigt mit unwiderlegbaren Fakten, dass alle Staaten seit Jahrhundertbeginn in einen dramatischen Rüstungswettlauf eingetreten waren, der sich irgendwann entladen musste. Ein rasant wachsendes militärisches Potential muss nicht nur finanziell vor der eigenen Bevölkerung begründet werden, es erzeugt auch – im Militär und in der Bevölkerung – eine militante Mentalität.

Den letzten Teil seines Buches widmet Clark dann der eigentlichen „Julikrise“ von 1914. In einem immer enger werdenden Zeittakt schildert er die dramatischen Ereignisse unmittelbar vor und nach der Ermordung des Thronfolgerpaares aus der Sicht der verschiedenen Regierungen und der jeweiligen Lobbygruppen. Er zeigt den fatalen Einfluss der langsamen Entscheidungsfindung von Österreich-Ungarn, das mit einer sofortigen militärischen Aktion gegen Serbien wahrscheinlich weitgehend auf Zustimmung oder Neutralität gestoßen wären, aber durch das lange Zögern erst die politische Ausnutzung der Situation vor allem durch Russland und Frankreich ermöglichte. Er zeigt auch an Hand vieler Dokumente und Aussagen der Politiker aller Länder, dass es bis zum letzten Tag vor Kriegsbeginn nicht nur Möglichkeiten sondern auch Aktivitäten zur Kriegsvermeidung gab. Doch meist waren diese damit verbundenen, den potentiellen Gegner in die Rolle des Aggressors und sich selbst in eine Verteidigungsposition zu bringen, was letztlich die Situation nur noch verschärfte. Clark zeigt aber auch, dass sowohl bei Politikern als auch in führenden Kreisen der jeweiligen Bevölkerung – leider vor allem bei Intellektuellen – eine grundsätzliche Kriegsbereitschaft, wenn nicht sogar Kriegsbegeisterung bestand. Für die Militärs galt das sowieso in allen beteiligten Staaten, und sie hatten fast durchweg schon seit längerer Zeit für Präventivschläge – so die Franzosen oder Deutschen – plädiert.

Da die meisten Beteiligten noch an den kurzen Krieg mit wenigen Entscheidungsschlachten glaubten und da die wahren Pazifisten, die sich den Krieg zu Recht als größtmögliche Katastrophe vorstellten, in der Minderzahl waren, trieben die europäischen Staaten schließlich wie „Schlafwandler“ – agierend aber nicht verstehend – in den „Großen Krieg“.

Zur Schuldfrage äußert sich Clark mit einem kritischen Einwand. Die politischen Verhältnisse in Europa vor dem Krieg seien äußerst komplex und hochgradig labil gewesen und hätten damit die Entscheidungsträger überfordert. Die Suche nach einem wohl definierten Schuldigen sei der verständliche aber irreleitende Versuch, die Komplexität zu reduzieren und ein einfaches, überschaubares System mit einer eindeutigen Zuordnung von Gut und Böse zu schaffen. Sie gehe außerdem von dem Vorverständnis einer bestehenden Schuld aus, für die es nur noch einen Träger zu suchen gelte. Ein solches Verständnis trage den wahren Verhältnissen jedoch keine Rechnung und trage in sich meist schon eine vorgefasste Meinung dazu, wie der Schuldige auszusehen habe.

Das Buch „Die Schlafwandler“ ist in der Deutschen Verlagsanstalt (DVA)  unter der ISBN 978-3-421-04359-7 erschienen, umfasst 895 Seiten und kostet 39,99 €.

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