Das wahre Gesicht einer Legende

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Die Kunsthalle Schirn zeigt in der Ausstellung „Esprit Montmartre“ die Sicht der zeitgenössischen Maler auf das Bohème-Viertel der „Belle Èpoque“

Bei dem Begriff „Montmarte“ denkt man meist an „Moulin Rouge“, „Place Pigalle“ und an „Bohème“. Die überwiegende Wahrnehmung geht in Richtung künstlerischer Unabhängigkeit und gesellschaftlicher Freizügigkeit. Diese Sicht haben – meist unfreiwillig – die Künstler der Epoche um die vorletzte Jahrhundertwende selbst geschaffen. Wie so oft wird die künstlerische Darstellung von Armut und Not in den Augen des bürgerlichen Betrachters zur pittoresken Authentizität. Kunst hat schön zu sein und dient in erster Linie dem Wohlbefinden dessen, der sich ihren Erwerb und Genuss leisten kann. Die Tatsache, dass vor allem die ästhetisch „gelungenen“ Bilder und ihre Schöpfer eher die Zeiten überstehen als die Werke von Schöpfern ungeschminkt naturalistischer Bilder, bestätigen und verstärken diese allgemeine Tendenz der Rezeption von Kunstwerken.

 

„Moulin de la Galette“ um 1900 (historische Aufnahme)

„Moulin de la Galette“ um 1900 (historische Aufnahme)

Die Kunsthalle Schirn hat sich die Aufgabe gestellt, mit diesem Vorurteil aufzuräumen, und lässt die Zeit zwischen 1885 und 1914 in einer Sammelausstellung von Werken zeitgenössischer Maler in ungeschminkter Realität wieder lebendig werden. Da sieht man dann keine mondänen Lebedamen mehr, sondern heruntergekommene, an Syphilis leidende Prostituierte, die sich ihre Geschwüre weiß überschminken; da sieht man halb verhungerte junge Mädchen, die von ihrem Arbeitslohn nicht bleben können und sich deshalb auf dem Montmartre verkaufen, anfangs vielleicht als Malermodell und dann bald zu anderen Diensleistungen; da sieht man Lumpensammler, Clochards, arme Wäscherinnen und Bettler, denen allen der Hunger und eine geringe Lebenserwartung gemeinsam sind. Und da sieht man immer wieder neben der sich entblätternden oder bereits entkleideten Prostituierten den gesichtslosen Herrn in Frack, die Hände erwartungsvoll auf dem Kopf des Spazierstocks gefaltet.

 

Die Kuratorin Dr. Ingrid Pfeiffer hat Gemälde, Zeichnungen, Grafiken und Druckwerke von 26 Künstlern der Zeit – darunter

Pablo Picasso: „Femme à la chemise“ (1905)

Pablo Picasso: „Femme à la chemise“ (1905)

Edgar Degas, Vincent van Gogh, Henri Toulouse-Lautrec, Amedeo Modigliani, Pablo Picasso und Maurice Utrillo, um nur die bekannteren Namen zu nennen – nach Themengruppen zusammengestellt. Eine zeigt den Montmarte als „Ort der Außenseiter“ mit Bildern aus Picassos „Blauer Periode“ mit halb verhungerten Zirkuskünstlern sowie mit Werken von Toulouse-Lautrec oder Auguste Chabaud, die das soziale Elend der Prostituierten und Verarmten zeigen. Der nächste Themenkreis dreht sich um die „Cafés, Absinthtrinker und Varietés“. Der Alkoholismus war eine fast zwangsläufige Folge der desolaten sozialen Verhältnisse und betraf Männer und Frauen gleichermaßen. Die Bilder aus den Varietés zeigen die Situation der in prekären Situationen lebenden Künstlern und zugleich die saturierten weil begüterten Vertreter des Bürgertums, die am Abend zum Vergnügen auf den (armen) Montmarte pilgerten.

Ein anderes Thema beschreibt die Netzwerke der Künstler, die sich notgedrungen oder aus gemeinsamem Interesse zusammentaten, sich gegenseitig portraitierten oder einfach nur in einfachsten Verhältnissen mehr oder minder gemeinsam auf dem Montmartre lebten. Damals zog man hierher, wenn man kein Geld hatte, weil es hier schäbig und billig war; heute können sich nur noch die Reichen eine Wohnung oder gar ein Haus auf dem Montmartre leisten. Ein Extrembeispiel der Gentrifikation, die aus dem heimlichen Wunsch des arrivierten Bürgers ensteht, sich von der eigenen Schicht abzusetzen und sich – bei besten wirtschaftlichen Bedingungen – als Freund der authentisch Armen zu profilieren. Ähnliches spielt sich heute in kleinerem Maßstab in Kreuzberg und Prenzlauer Berg ab.

Dem Montmartre als ländlichem Dorf ist ein weiteres Kapitel der Ausstellung gewidmet. Hier sieht man Bilder von van Gogh und anderen, die den Montmartre als eine Ansammlung von Hütten unterhalb der „Moulin de la Galette“ inmitten von landwirtschaftlich genutzten Feldern zeigt. Wer sich kein Haus leisten konnte, lebte hier in hastig aus Brettern zusammengebauten Hütten. Auf der anderen Seite des Hügels lagen dann die der Stadt zugewandten Straßen wie der Boulevard de Clichy oder der Place Pigalle.

 

Henri Toulouse-Lautrec: „Femme tirant son bas“ (1894)

Henri Toulouse-Lautrec: „Femme tirant son bas“ (1894)

Der Grafik und den Illustrationen in den damals geradezu explosionsartig sich verbreitenden Zeitschriften ist ein anderer Teil der Ausstellung gewidmet. Viele Künstler konnten nur durch diese Illustrationen ihren Lebensunterhalt verdienen, und die neuen Drucktechnicken aus England verliehen dem Druckgewerbe einen starken Aufschwung.

 

Ein weiterer Bereich beschäftigt sich ausschließlich mit dem Schicksal der jungen Frauen, die sich als (Akt-)Modelle, Tänzerinnen und Prostituierte verdingten, wobei die Grenzen zwischen diesen Tätigkeiten mehr als fließend waren. In diesem Bereich sieht man die kompromisslosesten Darstellungen der Wirklichkeit, die auf dem Montmartre herrschten, und vielleicht war so manches Bild gar nicht sio anklagend gemeint, wie es auf heutige Betrachter wirkt; denn damals war dies der Normalzustand, und das Sozialwesen war noch sehr unterentwickelt.

Die letzten beiden Themengebiete betreffen die „Plakate der Belle Èpoque“, die sich als Marketingmaterial damals stark verbreiteten, und die „Traumwelt des Zirkus“, die vor allem für die Künstler oftmals eher eine Albtraumwelt darstellte.

Der Kunsthalle Schirn ist hier eine bewegende Ausstellung gelungen, die nicht nur einige Vorurteile und angenehme Wahrnehmungen zurechtrückt, sondern auch Betroffenheit und Mitgefühl mit dem Schicksal der damaligen Verlierer weckt, wenn nicht gar Empörung darüber, wie Menschen mit ihresgleichen umgehen. Homo homini lupus.

Die Ausstellung „Esprit Montmartre“ ist vom 7. Februar bis zum 1. Juni 2014 dienstags sowie freitags bis sonntags von 10 bis 19 Uhr, mittwochs und donnerstags von 10 bis 22 Uhr geöffnet.


Nähere Informationen finden Sie hier.

Frank Raudszus

 

 

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