Roman Graf: „Niedergang“

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Eine Novelle über den schmalen Grat zwischen Selbstverwirklichung und Egomanie.

Buchumschlag

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Eine Vorbemerkung: Roman Graf, Jahrgang 1978, stammt aus der Schweiz, lebt jedoch seit einiger Zeit in Berlin. In dem vorliegenden Roman, der nach Thema und Zuschnitt eher als Novelle zu sehen ist, bricht der in Berlin lebende schweizer Mittdreißiger André mit seiner mecklenburgischen Freundin Louise zu einer Bergtour in den Schweizer Bergen auf. Graf hat hier offensichtlich autobiographische Erfahrungen verarbeitet, obwohl das nicht bedeuten soll, ihn mit der Hauptperson gleichzusetzen. Graf steht seinem Protagonisten nämlich durchaus kritisch gegenüber und verleiht ihm Eigenschaften, die seiner Meinung nach viele Männer – unter anderen Schweizer – in diesem Alter prägen und nicht unbedingt zu den erstrebenswertesten Charaktermerkmalen zählen.

Graf schildert die Bergtour konsequent aus Andrés Sicht, distanziert sich jedoch durch die dritte Person von seinem Helden. Louise lernt man nur durch den Filter von Andrés Gedanken, Vorwürfen und Enttäuschungen kennen, und es erfordert ein genaues Verständis der Befindlichkeiten Andrés, um seiner Freundin Gerechtigkeit widerfahren zu lassen.

André wollte Louise mit dieser Bergtour nicht nur die Schweizer Berge nahebringen, sondern ihr auch zeigen, was Bergwandern wirklich bedeutet – in ihrem „Revier“ Mecklenburg-Vorpommern haben die beiden nur lange Seenwanderungen unternommen – und zu welchen Leistungen er fähig ist. Von vornherein nimmt die Bergtour latent den Charakter einer Rechtfertigungstour an, da sich André als Schweizer in Berlin nicht ausreichend anerkannt fühlt – vor allem von Louise.

Unter diesem Stern steht die Wanderung vom ersten Augenblick, wenn die beiden bei Regen und dichtem Nebel bergauf ziehen, wobei André sein Tempo anschlägt und sich nur sehr eingeschränkt darum kümmert, ob Louise mitkommt. Mehr unbewusst als bewusst nimmt er mit Befriedigung zur Kenntnis, dass Louise sein Tempo nur mit Schwierigkeiten halten kann. Wie ein harter Ausbilder, der einen untrainierten – und ein wenig unwilligen – Schüler „an die Kandare“ nimmt, treibt André die Wanderung unerbittlich voran und lässt seine Freundin bei miserablem Wetter bis außer Sichtweite hinter sich.

Dass das nicht lange gut gehen kann, liegt auf der Hand. Doch André ärgert sich zunehmend über die vermeintlich unbegründete Übellaunigkeit seiner Freundin, ohne zu merken, dass sie diese Kampftour nicht mehr als sinnvolle Urlaubgestaltung betrachtet. Zusätzlichen Unwillen erzeugt der deutsche Wirt der Hütte, in der die beiden die erste Nacht verbringen, da er aus Brandenburg stammt und sich sehr angeregt mit Andrés sonst sehr schweigsamer Freundin unterhält. Der Autor lässt die unterschwellige Fremdenfeindlichkeit seines Protagonisten deutlich zum Ausdruck kommen, der es geradezu unverschämt findet, dass sich die Deutschen jetzt schon auf Schweizer Berghütten breit machen.

So kommt es am zweiten Tag zur Trennung, die äußerlich nur der Wanderung gilt, im Grunde sich aber bereits auf die Beziehung der beiden erstreckt. Louise gibt vor, den Anforderungen physisch nicht mehr gewachsen zu sein, weigert sich aber in Wahrheit, die Selbstverwirklichungstour ihres Freundes weiter mitzumachen. Sie steigt zu einem freundlicheren Ort ab, während André stur weiter geht. Gerade jetzt glaubt er, nicht einknicken zu dürfen, sich gegenüber seiner Freundin und ihren Winkelzügen durchsetzen zu müssen. Was allein zählt, ist, allen Widrigkeiten zum Trotz das einmal Begonnene fortzusetzen und zum Erfolg zu führen. Er ist kein „Weichei“, dass sich von der Ängstlichkeit einer Frau gleich ins Bockshorn jagen lässt. Ein Mann muss das tun, was er tun muss!

Unter Verdrängung sämtlicher Vorsichtsmaßnahmen und Bergregeln marschiert André allein weiter auf den Gipfel zu und nimmt sogar ohne Seil und Haken die letzte Wand im „free climbing“ in Angriff. Seine gesammelter Wille ist ausschließlich auf den Gipfel gerichtet, den er wie ein Racheengel bezwingen und seiner Freundin – herablassend – triumphierend vor die Füße legen will. So treibt die Novelle in den letzten Kapiteln unaufhaltsam und mit steigender Dichte auf die Katastrophe zu, die schon von vornherein in dem Handlungsentwurf angelegt ist.

Roman Graf zeigt sich als sprachmächtiger Autor, der den Stil der jeweiligen Situation virtuos anpasst. Sind seine Sätze anfangs noch länger und lassen Raum für Überlegungen und Reflexionen aller Art – besonders über seine Freundin -, so werden sie gegen Ende immer kürzer und drängender. Die ganze Anspannung und existenzielle Wut Andrés schlagen sich in der Wahl der Worte und der Konstruktion der Sätze nieder und führen in der Kletterszene zu einem sprachlichen Höhepunkt. Bei dem sich anbahnenden Ende spiegeln die längeren Sätze dann den beginnenden Zusammenbruch, den Fatalismus und eine sich langsam verdunkelnde Psyche wider.

Natürlich geht es in diesem Roman nicht nur um eine dramatische Bergtour, sondern vor allem um die Zerstörung einer Beziehung durch die egomanische Verwirklichung individueller Sehnsüchte. Darüber hinaus ist diese Novelle aber auch eine Metapher für die falsche Gestaltung des Lebens, bei der es darum geht, eigene Lebensziele ohne Rücksicht auf die Umstände und auf die Bedürfnisse des sozialen Umfelds – sprich: Beziehungen – zu verfolgen und dabei sogar das Prinzip des Siegens über das der Selbsterhaltung zu stellen.

Der Roman „Niedergang“ ist im Knaus-Verlag unter der IBSN 978-3-8135-0566-5 erschienen, umfasst 205 seiten und kostet 17,99 €.

Frank Raudszus

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