Thilo Sarrazin: „Der neue Tugendterror“

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Der „Provokateur der Nation“ stellt sich erneut den Eiferern.

Nach dem skandalisierten Buch „Deutschland schafft sich ab“ und dem ebenso in die rechte Eurogegner-Ecke geschobenen Buch „Europa braucht den Euro nicht“ hat Thilo Sarrazin seinen etablierten Kritikern nun neues Futter hingeworfen, oder um es mit einer aktuellen Metapher auszudrücken: er hat ihnen eine weitere Steilvorlage gegeben. Ausgehend von den vorangegangenen Diskussionen über seine beiden anderen Bücher hat er die Reaktionen der Öffentlichkeit einer Analyse unterzogen, die bei ihm wie gewohnt trocken und nüchtern ausfällt und zu dem Titel des „Tugendwahns“ geführt hat.

Buchumschlag

Buchumschlag

Bevor er einen – seinen! – aktuellen Fall aufgreift, definiert Sarrazin den Begriff der Meinungsfreiheit und die Einflüsse sowie Institutionen, die die jeweils gültige Grenzen festlegen. Dabei stellt er gleich zu Beginn fest, dass Meinungsfreiheit relativ ist, da sie stets an die gesellschaftliche Umgebung gebunden ist. Diese Erkenntnis erscheint aus rationaler Sicht nahezu banal, birgt jedoch einen nicht unerheblichen Sprengsatz in sich, da Meinungsfreiheit oftmals auf fast naive  Weise extensiv, wenn nicht absolut ausgelegt wird. Bindet ein rational denkender Mensch diesen Begriff an wenige grundsätzliche Axiome wie Menschenwürde oder – negativ – Volksverhetzung, so erscheint dies nachvollziehbar. In der Realität werden die Grenzen je nach politischer und weltanschaulicher Stimmungslage wesentlich enger gezogen. Der Autor musste dies selbst am eigenen Leine erfahren.

Politik und Medien sind für Sarrazin die Haupt-„Taktgeber“ bei der Meinungsfreiheit. Die Medien bestehen nicht nur – für sich – auf der Meinungs- sprich: Pressefreiheit, sondern als bisher noch dominierendes Öffentlichkeitsorgan setzen sie de facto auch die Grenzen. Die Politik, der diese Aufgabe eigentlich zukäme, beugt sich aus wahltaktischen Überlegungen weitgehend der von den Medien veröffentlichten Meinung, was täglich aus vielen Dementis oder beschwichtigenden Kommentaren verschiedenster Politiker nach entsprechenden Presseveröffentlichungen abzulesen ist. Aus diesem Meinungskartell von Politik und Medien hat sich für Sarrazin die „Political Correctness“ entwickelt, die ursprünglich in den USA entwickelt und von dort nach Deutschland exportiert und sofort perfektioniert wurde. Für Sarrazin ist dieser Begriff, kurz „PC“ genannt, mittlerweile ein hermetisch abgeschlossener Begriff, den weder Politiker noch selbst Medienvertreter selbst aufzubrechen wagen. Sarrazin erkennt einen Gruppenzwang, der alle Mitglieder der beiden Gruppen in ein geradezu eisernes Korsett zwängt. Wer gegen die Gebote der PC verstößt, wird ausgegrenzt und verächtlich gemacht, vorzugsweise durch Brandmarkung als „Rechter“. Da jeder die Assoziationskette „rechts – reaktionär – faschistoid“ kennt, droht jedem Abweichler – auch innerhalb der Medien! – bei Abweichung der soziale Tod. Die bei diesem engen Zusammenspiel bereits feststehende Verliererrolle der Politiker überträgt sich natürlich verstärkt in den unpolitischen, sprich privaten Raum. Wer in einer beliebigen Gruppe – vorzugsweise in höheren gesellschaftlichen Schichten – die falschen Ansichten äußert, erlebt in abgestuftem Maße diese Ausgrenzung, wobei das einfache Belächeln als „Ewiggestriger“ noch die harmlose Variante ist.

Sarrazin erwähnt in diesem Zusammenhang eine Umfrage unter Journalisten, in der sich diese mehrheitlich „links von der Mehrheit“ verorten. Nun kann ein Slebstabgrenzung von der Mehrheit nur aus zwei Gründen erfolgen: entweder man sieht sich als unterdrückter (und womöglich geächteter) Verlierer oder als Avantgarde und Elite. Da Journalisten offensichtlich nicht unterdrückt und geächtet werden, bleibt nur die letztere Möglichkeit. Eine selbsternannte Elite fühlt sich aber stets berechtigt, die – natürlich unmündigen – Bürger aufzuklären und notfalls zu erziehen. Diese Funktion nehmen die Medienvertreter aus Sarrazins Sicht ernst und definieren daher die öffentlich gültige Meinung und damit die „Political Correctness“.

Nun könnte man diese Tatsache akzepieren, und auch der Autor tut das, wären die Grundpfeiler dieser „PC“ vernünftig und nachvollziebar und vor allem: mit der Realität vereinbar. Hier jedoch sieht Sarrazin den großen Bruch, den er an seinem eigenen Beispiel, der öffentlichen Reaktion auf sein Buch „Deutschland schafft sich ab“, nachweist. Man könnte ihm nun Befangenheit unterstellen und ihm einen emotionalen Rundumschlag nach einer persönlichen Kränkung unterschieben. Das war auch die erste Reaktion verschiedener Rezensenten. Doch Sarrazin gibt diesen Kritikern kein „Futter“, denn er berichtet über den eigenen Fall höchst nüchtern und sachlich und wartet vor allem mit bedenklichen Fakten auf, so mit Falschzitaten aus seinem Buch oder Behauptungen über Aussagen, die er nie gemacht habe. Diese Fälle belegt er alle aus seinem eigenen Buch und den öffentlichen Reaktionen. Die mediale Öffentlichkeit zog es deshalb vor, die andere Form der Ausgrenzung zu betreiben: sein Buch schlichtweg totzuschweigen. Übrigens eine Methode, die er unter den Stichworten von Meinungsfreiheit und „PC“  überall dort angewandt sieht, wo man einen kritischen Geist nicht mit Sachargumenten widerlegen kann.

Das Bedenkliche bei dieser Entwicklung sieht Sarrazin darin, dass die Träger der „PC“ ein Wunschbild der Welt errichtet haben, das mit der Realität nachweislich wenig zu tun hat. Ob es nun um die falsche Anreizbildung von Sozialleistungen, die vermeintliche Ungerechtigkeit der Einkommen oder die angebliche Gleichheit aller Menschen – und vor allem der Geschlechter – geht: für Sarrazin sind dies alles Themen, bei denen man die Ergebnisse einer bestimmten Politik oder Sichtweise mit den Intentionen vergleichen und wenn nötig korrigieren muss. Die Vertreter der „PC“ beharren seiner Meinung nach jedoch auf ihrer Sichtweise und halten – frei nach Adorno – die Realität für unvollkommen und daher für veränderungsbedürftig. Auch das könne man diskutieren, wenn es sich um Unzulänglichkeiten handelte. Doch wenn wissenschaftlich weitgehend gefestigte Erkenntnisse einfach ignoriert werden, geht es für Sarrazin ums Eingemachte in der gesellschaftlichen Entwicklung. Er verdeutlicht dies noch einmal am Beispiel der Intelligenz, die nach allen Erkenntnissen zu über 50% vererbt wird, was aber weite Kreise bis in die Politik nicht nur ignorieren sondern – als Laien! – heftigst bekämpfen. Wer diese Haltung kritisiert, wird automatisch in eine eugenische oder rassistische Ecke geschoben, je nachdem, ob es sich bei der beobachteten Gruppe um eine autochthone Schicht oder eine fremde Ethnie handelt.

Nach der Analyse seines eigenen Falles – bei dem die Öffentlichkeit und die Institutionen sogar eine gewisse „Sippenhaft“ bei seiner Frau praktizierten – geht Sarrazin auf die Elemente der Meinungsbildung ein. Anhand von Beispielen aus der Geschichte – Machiavelli, Tocqueville – kommt er auf das Tabu zu sprechen, das gewisse Themen (oftmals Sexualität) mit einem Sprechverbot belegt. Dieses konkrete Sprechverbot erweitert sich dann nach Sarrazins Erkenntnissen zu einem allgemeinen Schweigegebot bei Themen, die nicht in das aktuelle Weltbild der meinungsbildenden Gruppe passen. Als Beispiel seien hier nur die islamischen Parallelgesellschaften im offiziell „multikulturellen“ Deutschland genannt. Sarrazin erwähnt dazu explizit Heinz Buschkowski und sein Buch „Neukölln ist überall“, das ebenfalls schnell dem Schweigegebot unterworfen wurde, da Buschkowsky SPD-Bürgermeister ist und damit schlecht in eine reaktionäre Ecke gedrängt werden konnte. Aus dem Schweigegebot entwickelt sich laut Sarrazin schnell der „circulus vitiosus“ der Schweigespirale, da die Furcht vor Ausgrenzung bei einem Bruch des Gebots zu voreilendem Gehorsam und zur prophylaktischen Abgrenzung von eventuellen Abweichlern führt. Sarrazin führt dabei mit einigem Mut brisante Fragen an, die derzeit gar nicht gestellt werden dürfen, weil allein die Frage schon ein Verstoß gegen die „PC“ darstellt. Beispiel: wenn verschiedene Ethnien genetisch über unterschiedliche physische Merkmale – Hautfarbe, Körperbau, Hitze- und Kälteresilienz, Unverträglichkeiten – verfügen, warum sollte dies ausgerechnet nicht für die Intelligenz gelten? Diese Frage stellt sich rein logisch jedem rationalem Denken, kann aber im Handumdrehen allein durch Aussprechen eine wissenschaftliche Karriere vernichten.

Des Weiteren untersucht Sarrazin die Sprache als Träger der Meinungsbildung und speziell der „PC“. Dabei entlarvt er das nachweislich untaugliche Mittel, unliebsame Problemfälle umzubenennen, um ihnen das Stigma zu nehmen. In Kürze trägt dann der neue Name das Stigma, und eine neue Umbenennung ist fällig. Am deutlichsten ist dies an der Bezeichnung der Farbigen nachzuvollziehen, wobei über mehrere Stufen hinweg – vom anfänglichen „Neger“ bis zum aktuellen „Mitbürger mit Migrationshintergrund“ – die neuen Bezeichnungen eben die alten Bedeutungen übernahmen. Obwohl jeder diese Mechanik kennt, wird das Verfahren in allen tabuisierten Bereichen tapfer fortgeführt. Man erkennt dies auch daran, dass in Zeitungsberichten über Delikte anfangs noch die Nationalität, dann nur noch der Vorname des Täters und neuerdings nicht einmal mehr dieser erwähnt wird, da er auch schon Aufschluss gibt. Diese zunehmende Einengung der Sprache – die sich übrigens auch im Geschlechterverhältnis ausdrückt  –  betrachtet Sarrazin als ein Zeichen der Dekadenz, da mit der Sprache auch das Denken kanalisiert und kontrolliert wird. Was nicht ausgesprochen werden darf, kann auch nicht gedacht werden. Das gilt auch für die Euro-Kritik, wo zum Beispiel der AfD fast automatisch rechtsextreme Tendenzen unterstellt werden.

In einem historischen Exkurs kommt Sarrazin auf die wiederkehrenden Muster des Tugendterrors zu sprechen, so die Inquisition, die Hexenverbrennungen, den Terror der Französischen Revolution und Stalins sozialistischen Terror. Man könnte noch Pol Pots System und den aktuellen nordkoreanischen Terror hinzufügen. All diesen Tugendsystemen ist gemein, dass sie über die absolute Wahrheit zu verfügen meinten und es als ihre Aufgabe betrachte(te)n, sie in der Realität zu verwirklichen und alle Gegner zu bekehren oder zu eliminieren. In einem weiteren Exkurs über Moral betont Sarrazin die Relativität aller Moral – eine Häresie für alle „Tugendhaften“! –  und vor allem auf die seltenen Fälle von sozialem Mut zu sprechen, der sich darin äußert, gegen expliziten und impliziten Tugendterror zu protestieren.

Am Schluss stellt Sarrazin vierzehn Axiome des Tugendwahns in Deutschland auf. Dabei formuliert er die Axiome erst in der Diktion der jeweiligen „Tugendwahn-Vertreter“, durchaus pointiert und – wie er selbst eingesteht – teilweise satirisch, und stellt sie dann der Realität gegenüber. Dabei kommen Axiome wie „Ungleichheit ist schlecht, Gleichheit ist gut“, „wer reich ist, sollte sich schuldig fühlen“, „Die menschlichen Eigenschaften hängen fast ausschließlich von Bildung und Erziehung ab“, „Völker und Ethnien haben keine Unterschiede,…“ oder „Männer und Frauen haben bis auf ihre physischen Geschlechtsmerkmale keine angeborenen Unterschiede“ zur Sprache. Versteht sich, dass Sarrazin all diese „Tugend-Axiome“ beim Vergleich mit der Realität zerpflückt und als unhaltbar deklariert. Für ihn sind Unterschiede von Menschen und Ethnien bis zu einem gewissen Grad durchaus angeboren und nicht durch Erziehung „behebbar“. Darüber hinaus betrachtet er diese Unterschiede ganz offen auch als fruchbar und belebend und die Vorstellung einer Welt von vollständig Gleichen als bedrohlich. Dabei zitiert er des Öfteren George Orwells „1984“, das eben diese Gleichheit mit einer abgespeckten Sprache ohne Problembegriffe und einer starken Überwachungsstrategie erzwingen will. Für Sarrazin ist die angestrebte (und letztlich erzwungene) Gleichheit nichts anderes als ein Machtmittel zur Durchsetzung vordergründig „guter“ weil tugendhafter Ziele, hinter denen jedoch totalitäre Vorstellungen einer einheitlichen, von Tugendkadern gesteuerten Welt.

In einem kurzen Epilog fasst er die Ziele und Absichten seines Buches zusammen und beschwört eine offene Gesellschaft mit einem vielfältigen Meinungsbild, das auch Probleme nicht ausklammert sondern anspricht und realitätsnah zu lösen versucht. Er sieht aber auch die Alternative einer im Tugendwahn erstarrten  Geselslchaft, die in absehbarer Zeit unter den demographischen und sozialen Problemen kollabieren wird.

Wer noch nicht von der Schweigespirale erfasst ist oder nicht „sowieso weiß, was dieser Sarrazin schreibt“, sollte dieses Buch durchlesen und sein Weltbild daran prüfen. Schaden kann es nicht. Das Buch ist in der Deutschen Verlagsanstalt (DVA) erschienen, umfasst einschließlich umfangreichen Quellenhinweisen und Register 397 Seiten und kostet 22,90 €.

Frank Raudszus

 

 

 

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