Peter Sloterdijk: „Die schrecklichen Kinder der Neuzeit“

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Eine umfassende Analyse der letzten 2000 Jahre aus der Perspektive der Genealogie.

Man kann die menschliche Geschichte aus vielen Perspektiven beleuchten: der Religion, der Sexualität, der Aggression oder der Ökonomie.  Zu jeder dieser Sichtweiten gibt es eine umfassende Literatur, so etwa die Bibel oder „Das Kapital“. Der Karlsruher Philosoph Peter Sloterdijk hat sich der menschlichen Geschichte jetzt aus dem Blickwinkel der genealogischen Abfolgen und ihrer Bedeutung für die verschiedenen Epochen gewidmet.

1409_schreckliche_kinderGleich zu Beginn holt der Autor weit aus und weist darauf hin, dass bereits Augustinus von Hippo, einer der frühen Kirchenväter, der Vererbung eine zentrale Stellung in der menschlichen Geschichte eingeräumt hat. Adam und Eva hatten mit dem „Sündenfall“ die sogenannte „Erbsünde“ begangen, für die sie aus dem Paradies vertrieben wurden. Damit diese Sünde im Sinne eines permanent und notwendigerweise schuldigen Menschengeschlechts – im Sinne der christlichen Religion – nicht von der Zeit annulliert wird, hat Augustinus sie an den Geschlechtsakt gebunden. Die Fortpflanzung und damit die gesamte Menschheit ist daher bis in alle Ewigkeiten an die Erbsünde gekettet. Daraus konnte die Kirche dann Schuldbewusstsein, Sühne und letztlich Macht ableiten. Diese kurze Herleitung dient sozusagen als fanfarenhafte Einstimmung auf das Thema und zeigt gleichzeitig, wie stark damit das Generationenband geknüpft wurde. Jede Generation sah sich erneut mit der Erbsünde der eigenen Eltern konfrontiert, musste für sie einstehen und sich selbst damit beflecken. Die Schuld verband die Generationen untrennbar.

Diese eng geknüpfte Weitergabe der Werte und Sitten von Generation zu Generation wurde jedoch durch einschneidende Ereignisse aufgerissen, und dieser Riss – den Sloterdijk als „Hiatus“ bezeichnet – lässt die Affekte und Begehrlichkeiten unkontrolliert ausbrechen.

Einer dieser Risse der Neuzeit war die französische Revolution. Nach ihr drängten sich den Menschen drei wichtige Fragen auf:

  • „Wie konnte Gott das zulassen?“ (der Diplomat de Maistre im Hinblick auf die französische Revolution)
  • „Was ist zu tun?“ (der russische Schriftsteller Tschernischewsky in seinem revolutionären Roman)
  • „Stürzen wir nicht fortwährend“? (Friedrich Nietzsche in einer Diagnose seiner Zeit)

Diesen Fragen geht Sloterdijk im Folgenden auf den Grund, wobei er sich weitgehend auf die letzten beiden konzentriert. Die erste Frage stellt eher die Reaktion der konservativen, am Althergebrachten orientierten Generation dar, die den Bruch der über Generationen aufgebauten und gehüteten Traditionen und Regeln nicht versteht und schlichtweg als eine nicht weiter erklärbare Urkatastrophe betrachtet.

Die zweite Frage kommt von denen, die die Verhältnisse ändern wollen und nach Handlungsanweisungen suchen. Nach dem eher literarischen Revolutionär Tschernischewsky übernahm Lenin als nächster diese Frage explizit und beantwortete sie mit einer so konsequent wie skrupellos inszenierten Oktoberrevolution.

Nietzsche schließlich drückte mit seiner eher rhetorischen Frage das Lebensgefühl des späten 19. Jahrhunderts aus (das sich seitdem noch verstärkt hat), dass die menschliche Geschichte sich nicht mehr in einem kontrollierten, gleichmäßigen Gang bewege, sondern haltlos vorwärts (sowie seitwärts und abwärts) stürze und sich dabei nur an volatilen Ideen und Grundsätzen festklammere. Das hinter dieser Frage stehende Gefühl sieht Sloterdijk heute, im Zeitalter uferloser Schulden und zunehmender Krisen, als besonders ausgeprägt an.

Jede Kultur versucht laut Sloterdijk, ihre Werte und Lebensweise möglichst unverändert an die nächste zu vererben. Bei dieser Vererbung treten jedoch von Zeit zu Zeit „Kopierfehler“ in der kulturellen DNA auf, meist bedingt durch Umbrüche unterschiedlichster Art. Der heute als „Spießertum“ abgewertete Konservatismus des 19. Jahrhunderts habe noch für eine gewisse Kontinuität gesorgt, das Risiko der „Erbfehler“ sei jedoch im 20. Jahrhundert aus nahe liegenden Gründen deutlich gestiegen. Heute prägten kulturschwache, ratlose Eltern und eine ebenso ratlose Jugend das Feld. Nicht zuletzt das Leitwort der „Freiheit“ nach dem letzten großen Hiatus, der französischen Revolution, habe zum Zusammenbruch der kontinuierlichen kulturellen Vererbung geführt.

Aus diesen Überlegungen ergibt sich für Sloterdijk ein „Erster zivilisationsdynamischer Hauptsatz“, der besagt, dass die Summe der nach einem Hiatus freigesetzten zivilisatorischen Energie stets größer sei als die kulturellen Bindekräfte – will sagen: dass die daraus folgenden Fliehkräfte das Gesamtsystem destabilisieren. Diesen Hauptsatz hat er in 25 Untersätzen weiter detailliert, die teils hellsichtigen, teils satirischen Charakter aufweisen. In der Phase des „Vorwärts- und Abwärtsstürzens“  betätige sich der Staat nur noch als Reparaturbetrieb und könne keine Lösungen mehr für die Probleme der Asymmetrie (zwischen den Generationen) anbieten.

An sieben historischen Beispielen erläutert er das „Vorwärts- und Abwärtsstürzen“ bzw. die „Drift ins Bodenlose“. Das Lebensgefühl in Revolutionen, die sich aus solchen wachsenden Asymmetrien ergeben, beschreibt Sloterdijk treffend anhand der französischen Revolution. Die Hinrichtung Ludwig des XVI. ist für ihn der Ausfluss einer „Phobokratie“, die aus dem revolutionären Gefühl entstehe, „endlich einmal zu weit gehen zu dürfen“. Die Reuelosigkeit ist für ihn die erste Pflicht der Radikalen – was sich übrigens jetzt wieder im Irak bewahrheitet.

Napoleons Krönung zum Kaiser dient als nächstes Beispiel. Der typische Emporkömmling aus einer unbedeutenden korsischen Familie kommt „aus dem Nichts“ und kann seine herausragende Stellung ohne dynastischen Hintergrund nur durch das permanente militärische „Vorwärtsstürzen“ und die daraus erwachsenden Erfolge halten. Er ist sich dieser Tatsache voll bewusst und versucht daher – vergeblich – durch den Aufbau einer Dynastie seinen Erfolg zu perpetuieren.

Der Dadaismus als Kunstrichtung entsteht im Ersten Weltkrieg und entledigt sich bewusst sämtlicher künstlerischer Traditionen und Vorbilder. Auch die Zukunft gilt nichts mehr. Die künstlerische Linie Vater-Sohn-Enkel ist aufgebrochen zur reinen Gegenwart ohne verbindlichen Sinnzusammenhang, und es bleibt nur ein blindes „Vorwärtsstürzen“.

Als nächstes Beispiel führt Sloterdijk die bolschewistische Revolution an, die Lenin nach der bereits erfolgreichen bürgerlichen Revolution als reines „Vorwärtsstürzen“ inszenierte und deren Erfolg weitgehend der skrupellosen Negierung sämtlicher Regeln und Vereinbarungen zu verdanken war. Der Mord an der Zarenfamilie bildet in dieser Episode einen Höhepunkt des Schreckens und des Bruchs mit allen Traditionen. Wurde Ludwig XVI. noch nach einem wenn auch farcenhaften Prozess hingerichtet, fielen bei dem Massaker im Keller von Jekaterinburg jegliche Rücksichten auf rechtliche Verfahren. Die „vorwärtsstürzende“ Aktion wird hier zum alles bestimmenden Merkmal.

Diese Haltung setzt sich in Stalins Säuberungsprozessen in der Partei im Jahr 1938 fort. Hier wird die Genealogie mit der Folge der Nachkommen geradezu ins Gegenteil getrieben. Stalin hatte – taktisch durchaus richtig – erkannt, dass ihm die Veteranen der Revolution wegen ihrer Erfahrung und ihrer Reputation gefährlich werden könnten. Alles, was vor Stalin war, war daher auszumerzen, und die zum Tode Verurteilten mussten dies auch noch öffentlich akzeptieren.

Himmlers Rede vor SS-Angehörigen im Jahr 1943 über die Zukunft des „Reiches“ trägt ähnliche Züge des Unbedingten einschließlich der kompromisslosen Liquidierung aller völkisch oder politisch nicht ins Bild passenden Ethnien und sonstigen Gruppierungen in den zu erobernden Ostgebieten. Himmler geht dabei sogar soweit, den Massenmord einerseits als „Notwendigkeit“, andererseits als psychisch belastend für die Täter(!) darzustellen. Die Legitimierung wird dabei im Begriff der „Notwendigkeit“ geradezu als selbstverständlich vorausgesetzt.

Das letzte Beispiel betrifft die Neuordnung des weltweiten Finanzsystems in Bretton Woods im Jahr 1944.  Auch hier wurde die lange Tradition des Goldstandards durch ein diffuses „Vertrauen“ in eine Währung – den US-Dollar – ersetzt, das gerade einmal zwanzig Jahre hielt. Seitdem befindet sich das weltweite Finanzsystem in einer unaufhaltsam abwärts stürzenden Spirale, unter stillem Einverständnis von Politik und Finanzwesen.

Sloterdijk hat seinen „zivilisationsdynamischen Hauptsatz“ mit diesen historisch und sachlich unterschiedlichen Episoden treffend und stichhaltig belegt. Dabei hat er sich – dem Titel des Buches folgend – weitgehend auf die Neuzeit seit der französischen Revolution beschränkt. Sicher gab es in früheren Epochen ähnliche Brüche, etwa den Zusammenbruch des römischen Imperiums, die Pest oder die Renaissance mit all ihren Facetten. Ein Grund für die Eingrenzung auf die Neuzeit mag gewesen sein, dass erst mit der Entdeckung der letzten Kontinente und der Erfindung des Buchdrucks so etwas wie eine globalisierte Welt entstanden ist, die man als Ganzes betrachten kann.

In einem weiteren Kapitel geht Sloterdijk detailliert auf die Wesensmerkmale der Generationenfolgen ein. Dabei sieht er den Übergang der „archaischen Traditionskultur“ zur „horizontalen Aktualitätskultur“ durch drei Faktoren bedingt:

  • Freiwilliger Anschluss an eine höhere Kultur (Ökumenismus)
  • Übernahme durch eine höhere Kultur („Hybridisierung von oben“, Imperialismus)
  • Rückkehr zu den (angeblich) ursprünglichen Quellen (Reformation/Renaissance).

Die Traditionsverweigerer bezeichnet er in metaphorischem (nicht wertenden!) Sinne als „schreckliche Kinder“, da sie einen zentralen Wert der herrschenden Kultur in Frage stellen. Diese „schrecklichen Kinder“ leitet er aus der griechischen Mythologie ab, in der Monstren als abschreckende Beispiele für gescheiterte „Filiationen“ (Generationenfolgen) mit singulärem Charakter, d. h. mit fragwürdiger Abstammung und ohne Nachkommen dienen. Die Skepsis gegenüber den herrschenden „Sitten“ schildert er eingehend an den Beispielen von Sokrates und Alkibiades. Der eine destabilisierte die Ordnung der Polis mit seiner grundsätzlichen Skepsis, und der andere sprengte den Rahmen der Tradition durch sein überragendes Multitalent und seine alle Regeln relativierende Eigenständigkeit. Auf der Seite des Mythos diskutiert Sloterdijk die gescheiterte Generationenfolge am Beispiel des Ödipus, der allgemein als tragisch-schuldige Figur betrachtet wird. Doch Sloterdijk sieht in Ödipus lediglich einen jungen Mann, der einen ihm unbekannten, widerspenstigen Unbekannten in einem Hohlweg tötet und anschließend eine attraktive Witwe heiratet. Die genealogische „Schuld“ sieht er bei Laios, der aus Furcht vor dem Orakel seinen eigenen Sohn als Säugling in den (fast) sicheren Tod durch Aussetzen schickt. Den Ödipus-Mythos kann man laut Sloterdijk als die griechische Version der christlichen „Erbsünde“ sehen.

Ein weiterer mythischer Fall einer problematischen Genealogie ist für Sloterdijk Jesus. Aus den wenigen faktischen Angaben der Evangelisten lässt sich entnehmen, dass Jesus ein vaterloser „Bastard“ (Sloterdijk verwendet diesen Begriff im neutralen Sinn) zur Welt kam und darunter litt. Aus diesem Defizit entwickelte er eine antiautoritäre, ich-fixierte Haltung, die sich bis zu einer autosuggestiven Verschmelzung mit dem „Vater im Himmel“ steigerte, die wiederum dem jüdischen Paradigma einer deutlichen Distanz zwischen Gott und den Menschen widersprach. Daraus folgte laut Sloterdijk weiterhin Jesus´anti-familiäre Einstellung, die sich sowohl in  der berühmten Frage „Was habe ich mit diesem Weib (Maria) zu schaffen?“ niederschlug als auch in der Forderung an seine Jünger, alle familiären Bindungen aufzugeben und nur ihm zu folgen. Aus diesem fast schon neurotisch zu nennenden „Vaterkomplex“ machten die späteren Evangelisten das transzendente Vaterbild des quasi-biologischen „Sohn Gottes“. In diesem Zusammenhang weist Sloterdijk auch auf den bis heute verdrängten Widerspruch hin, dass Jesus laut Neuem Testament und gemäß der jüdischen Messias-Prophezeiung einerseits (in der väterlichen Linie!) von David abstammt, andererseits aber gerade nicht von einem weltlichen Mann sondern vom Heiligen Geist gezeugt worden ist.

Von den frühen Evangelisten kommt Sloterdijk auf das Verhältnis der Mystiker zur Genealogie zu sprechen. Franz von Assisi dient Sloterdijk als ein hervorragendes Beispiel für die Absage an alle Bindungen und die totale Hinwendung zu der göttlichen Instanz, vor allem, weil der junge Francesco seinem Vater in aller Öffentlichkeit abschwört. Die Mystiker trieben die Vereinigung des Menschen mit Gott bis zur Selbstaufgabe und sahen sich von Gott und Jesus belebt, ja, fühlten sich zu Lebzeiten buchstäblich von ihnen „beseelt“. Das ging jedoch nur über eine vollständige Entweltlichung und Absage an alle genealogischen Verbindlichkeiten. Die Kirche trieb diese anti-genealogische und anti-säkulare Fokussierung bewusst voran, während sich ihre Vertreter vor allem in den höheren Rängen der praktischen Genealogie in forciertem Maße widmeten. Die Mystiker bedauern den weltlichen Menschen mit seinen Bindungen und warnen ihn vor einer „Bekehrung des letzten Augenblicks“ . Gnade gebe es nur für die schon früh Erleuchteten. Nur zu deutlich erkennt man hieran die allzu menschliche „Besitzstandswahrung“ der Mystiker, die in der eigenen Entbehrung eine letztlich zu honorierende Leistung sehen. Zur Kirche der christlichen Frühzeit prägt Sloterdijk in diesem Zusammenhang den Satz, große Theologie sei die Anleitung, Gott besser zu verstehen, als er sich selbst verstehe.

In der einprägsamen Metapher eines Triptychons fasst Sloterdijk die Geschichte mythischer und historischer „Bastarde“ zusammen. In der Mitte dieses Altargemäldes sieht man die große Mehrheit der alltäglichen Bastarde, die mit den Milieus ihrer Herkunft gebrochen haben und sozusagen zu ehrbahren Karrieren gefunden haben. Auf dem einen Seitenflügel sind die heldenhaften Bastarde zu sehen, zu denen Sloterdijk beispielhaft Alexander den Großen und Cola di Rienzi zählt. Ersterer erlebte ausgerechnet im späten Mittelalter eine Renaissance als Held des „Alexander-Liedes“, das ihm wegen seiner Ähnlichkeiten mit Jesus – Charisma und früher Tod – auch noch eine semi-göttliche Herkunft andichtete, und bewegte mit seinem gleichsam erlösergleichen Lebenslauf die Gemüter von Kleriker und Laien. Cola di Rienzi war dagegen das Paradebeispiel des selbsternannten Volkstribuns und Hochstaplers, der sich aus kleinsten Verhältnissen mit viel Chuzpe und einigem Glück als Vertreter des Volkes bis an die Spitze Roms hocharbeitete, dort aber schließlich nach einigen kurzfristigen Erfolgen seinem eigenen Größenwahn zum Opfer fiel und von der aufgebrachten Menge umgebracht wurde. Rienzi war eine durchaus ambivalente Persönlichkeit und sorgte am Anfang seiner Karriere als Herrscher Roms für zahlreiche Verbesserung in der korrupten Verwaltung der Stadt und bei den Lebensverhältnissen der Bevölkerung. Doch zeigt dieser Fall exemplarisch, dass gerade das Fehlen kultureller Regeln, wie sie eine lange Familientradition mit sich bringt, ihn letzten Endes der Korruption durch die Macht verfallen ließen.

Auf dem anderen Flügel von Sloterdijks Tryptichon stehen die dunklen Bastarde, verdeutlicht am Beispiel des Edmund aus Shakespeares „King Lear“. Dieses Stück spielt die verschiedenen Facetten der Genealogie und ihrer Randerscheinungen deutlich vor Augen. Als außerehelicher Sohn des Grafen von Gloucester hat Edmund gegen seinen „legalen“ Bruder Edward dynastisch keine Chancen und reagiert darauf mit Heimtücke, Mord und Verrat. Parallel dazu verhandelt Shakespeare das genealogische Drama des alten Königs und seiner drei Töchter. Sloterdijk sieht hier die Abgründe gescheiterter Filiation in einem einzigen Stück verdichtet, das am Ende keine Hoffnung mehr lässt. Auch Hamlet gehört – obwohl selbst kein Bösewicht – für ihn in diese Reihe, da auch hier eine gescheiterte Generationenfolge im Mittelpunkt steht. Doch Hamlet reagiert auf den Mord an seinem Vater und die blutschänderische Hochzeit seiner Mutter nicht mit einem Rachefekdzug sondern mit dem Zweifel des Gedankens und erweist sich damit als erster Vertreter des modernen Intellektuellen.

Die USA als Pionierland ohne Geschichte sind für Sloterdijk ein Paradebeispiel eines Aufbruchs ins Neue mit einer eher negativen Filiation, da viele der Siedler ihre Heimat wegen der dortigen Lebensverhältnisse verlassen hatten. Bei aller Skepsis gegenüber der Filiation bewahrten die USA jedoch stets einen pragmatischen Blick. Dort blickte man von Beginn an nur nach vorn, nie in die Vergangenheit. Das hat im Laufe der Zeit auch zu einer speziellen Haltung zum Erben geführt. In den USA gilt es noch heute als verpönt, reich zu sterben. Den Kindern soll nicht unbeschwerter Reichtum sondern die Möglichkeit zur Bewährung vererbt werden. Reichtümer werden zum Ende des Lebens gestiftet. Jefferson selbst hat bereits in seinen Schriften gefordert, das keine Generation der nächsten Schulden hinterlassen darf. Sein Wort in Gottes Ohr.

In Deutschland verlief die selbe Zeit kulturgeschichtlich völlig anders. Hier baute sich eine Kette von sich gegenseitig übertreffenden Vertretern einer radikalen Individualisierung auf, die mit den „Jung-Hegelianern“ begann. Sloterdijk sieht auch hier einen dramatischen Bruch mit den Traditionen der Filiation, der in Max Stirner einen nicht mehr überbietbaren Höhepunkt fand. Für ihn galt nur das „Ich“ ohne jegliche Voraussetzungen und Abhängigkeiten. Die totale Subjektivierung bedeutete die Verinnerlichung sämtlicher Lebensprinzipien und mündete in die „Konsumierung des eigenen Ichs“. Marx und Engels konterten diese Ego-Zentrierung Stirners, indem sie das „Proletariat“ als das eigentliche kollektive „Ich“ setzten und damit bewusst einen herkunftslosen „Bastard“ schufen.

Als Gegenstück zum Marxschen Proletariat ist dann laut Sloterdijk wiederum der moderne Mensch entstanden, der nicht mehr Teil eines anonymen Kollektivs sondern ausgeprägter Individualist ist. In entfernter Analogie zu Stirner tritt er jedoch ebenfalls als „Endverbraucher“ auf, wobei er jedoch nicht sich selbst konsumiert, sondern alle Güter und Dienstleistungen des Marktes. Dabei lehnt er jedoch im Sinne eines konsequenten Filiationsverzichts jegliche Verpflichtungen gegenüber Vorfahren und Nachkommen ab, was sich unter anderem als Spott über Traditionen und Sitten sowie als niedrige Geburtenrate niederschlägt. Der zentrale Wesenszug dieser „Kinder der Neuzeit“ ist die ironische Betrachtung aller „Idealisten“ und „Altruisten“ bzw. „Gutmenschen“.

Bis auf die Hinweise auf den letzten Seiten verzichtet Sloterdijk auf eine explizite oder gar kurzschlüssig-populistische Kritik an der heutigen Gesellschaft oder gar speziell der Jugend. Der Buchtitel mag in dieser Hinsicht auf den ersten Blick zu falschen Schlüssen führen, und manche Erwähnungen in der Presse deuteten bereits auf eine titelinspirierte Interpretation hin. Doch Sloterdijk geht es um vielmehr, nämlich um die Aufarbeitung der Zivilisations-, Kultur- und Geistesgeschichte zumindest der letzten tausend wenn nicht zweitausend Jahre aus der Perspektive der Generationenfolge, und da wäre eine Zeitgeistkritik wohl etwas zu wohlfeil gewesen. Dennoch kann er sich auf der letzten Seite nicht den Verweis auf Napoleons Mutter verkneifen, die auf die Erfolge ihres Enkels mit der Bemerkung „pourvu que ça dure“ („wenn das nur gutgeht“) reagierte. Dazu passt auch der Ausruf  der in einem langen Kapitel als genealogischen Sonderfall beschriebenen Madame Pompadour „Après nous le deluge“, den er den aktuellen schrecklichen Kindern der Neuzeit als ironischen Weckruf mitgibt.

Sloterdijk hat mit diesem Buch wiederum eine Reihe provokanter und eigenwilliger Thesen vorgelegt, die sicher nicht in das Konzept orthodoxer – linker wie rechter – Geschichtsphilosophie passen und wahrscheinlich einigen Widerspruch ernten werden, falls die Gegner bei diesem im Blickpunkt der Öffentlichkeit stehenden und sehr beliebten Intellektuellen nicht lieber das Konzept des Totschweigens wählen. Wer auf die Geschichte der letzten zwei Jahrtausende einen völlig neuen Blick werfen möchte, ohne sich mit wüsten Verschwörungstheorien oder abstrusen Ideen beschäftigen zu müssen, sollte sich dieses nicht immer einfach zu lesende Buch zu Gemüte führen.

Das Buch „Die schrecklichen Kinder der Neuzeit“ ist im Suhrkamp-Verlag unter der ISBN978-3-518-42435-3 erschienen, umfasst 489 Seiten und kostet 26,95 €.

Frank Raudszus

 

 

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