Thomas Harding: „Hanns und Rudolf“

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Zwei Biographien, die unterschiedlicher nicht sein könnten.

1501_hanns_und_rudolfDer Titel dieses Buchs lässt an einen eher familienpsychologischen Roman über ein Brüder- oder Freundespaar denken. Seine vordergründige Biederkeit verbirgt jedoch einen kaum zu übertreffenden inhaltlichen Sprengstoff, denn bei den beiden Männern, deren Biographien hier vorgestellt werden, handelt es sich um Hanns Hermann Alexander, Sohn eines anerkannten jüdischen Arztes aus Berlin, und Rudolf Höss, den Erbauer und langjährigen Kommandanten des Konzentrationslagers Auschwitz. Verbunden sind diese beiden Lebensläufe dadurch, dass Alexander es sich zur Lebensaufgabe machte, Höss nach dem zweiten Weltkrieg ausfindig zu machen und der Justiz zu übergeben.

Thomas Harding, seines Zeichens Dokumentarfilmer und Journalist, hat dieses Buch nicht aus einer generellen politischen Haltung, sondern – auch – aus ganz persönliche Gründe verfasst. Hanns Herman Alexander war sein Großonkel, doch über seine Aktivitäten in der erwähnten Angelegenheit wurde nie viel geredet, da Alexander darum kein Aufhebens machen wollte. So musste Harding aufwändige Recherchen anstellen, um die Einzelheiten der beiden Biographien und ihre Verbindung zu ermitteln.

Er hat die beiden Biographien in abwechselnder chronologischer Reihenfolge angeordnet. Das erste Kapitel beginnt mit der Geburt von Rudolf Höss in einem kleinen Vorort von Baden-Baden im Jahr 1901 und erstreckt sich bis zum Ende des Ersten Weltkrieges, das zweite beschreibt den familiären Hintergrund des 1917 in Berlin geborenen Hanns Hermann Alexander und endet in den späten zwanziger Jahren. Diesen Wechsel der Perspektive hält Harding bis zum Schluss konsequent durch.

Die Herkunft der beiden Protagonisten könnte unterschiedlicher kaum sein. Während Alexander aus einer großbürgerlichen, jüdischen Familie mit hoher Integration in die deutsche Gesellschaft stammte – sein Vater diente im Ersten Weltkrieg als Lazarettleiter -, wuchs Höss in engen, kleinbürgerlichen Verhältnissen auf, und sein Vater übertrug seine Frustration über den verlorenen Weltkrieg auf den Sohn. Schon als Fünfzehnjähriger, wenn andere Jugendliche gerade durch eine mehr oder minder harmlose Pubertär gehen, meldete er sich unter falschen Altersangaben zum Militär und diente als Kavallerist im vorderen Orient. Seine derart frühzeitige Gewöhnung an Pflicht, Zucht, Ordnung und Kampf auf Leben und Tod haben sich, wie Harding zeigt, bestimmend auf seinen weiteren Lebensweg ausgewirkt.

Harding wagt vor allem bei der Höss-Biographie etwas, was ein Deutscher nicht wagen könnte, ohne in den Verdacht eines nationalen Relativismus oder gar Revisionismus zu geraten: er stellt Rudolf Höss nicht als ein jegliche menschliche Maßstäbe sprengendes Monster, sondern als einen Menschen mit Stärken und Schwächen dar, der sogar über eine ausgeprägtes moralisches Wertesystem verfügte und vor allem das einfache Leben auf dem Land liebte. Diese nüchterne Darstellung bis hin zum liebevollen Vater und Ehemann, der tagsüber Abertausende von Lagerinsassen vernichten ließ und abends mit den Kindern scherzte, erklärt das Phänomen eines Menschen, der jegliche Maßstäbe verliert, wesentlich besser als jede pathetische Verdammung, die darüber hinaus meist nur das uneingestandene Ziel verfolgt, eine möglichst große anthropologische Distanz zwischen dem Autor und dem negativen Helden zu schaffen. Deshalb ist Hardings Entsetzen über die Verbrechen von Ausschwitz (und anderen Lagern) nicht einen Deut geringer als bei anderen Autoren.

So gesehen ist natürlich die Biographie des Rudolf Höss wesentlich aufschlussreicher als die von Hanns Alexander. Dieser schafft es mit seiner Familie, Mitte der dreißiger Jahre unter Aufgabe fast des gesamten – nicht unbeträchtlichen – Familienvermögens aus Deutschland zu fliehen und in England eine zweite Heimat zu finden. Im Krieg meldet er sich zur englischen Armee aus der Überzeugung, diesem Land etwas zurückgeben zu müssen, während Rudolf Höss Karriere in den neu geschaffenen Konzentrationslagern macht. Gegen Ende des Krieges wird Hanns als Dolmetscher nach Deutschland geschickt, um dort die aktive Suche nach Kriegsverbrechern und deren Festnahme zu unterstützen. Dabei lernt er am Beispiel von Bergen-Belsen die Gräuel der KZs kennen. Als er dann noch von der geradezu industriellen Vernichtung der Juden und anderer Minderheiten in Auschwitz erfährt, beschließt er, auf eigene Faust nach dem Kommandanten von Auschwitz zu suchen. Denn seine Vorgesetzten haben die weitere Suche nach untergetauchten NS-Verbrechern aus Kosten- und Ressourcengründen stark eingeschränkt und rechnen sich keine großen Chancen auf spektakuläre Festnahmen aus.

Wie es Hanns Alexander gelang, Rudolf Höss ausfindig zu machen und ihn der Justiz zu überstellen, beschreibt Harding nicht als spannenden Thriller – das wäre dem Thema wohl auch nicht angemessen gewesen –, sondern als nüchternes Protokoll der Aktivitäten, Teilerfolge und Rückschläge bis hin zur Festnahme. Bei aller Sachlichkeit kann Harding jedoch verständlicherweise nicht seine Bewunderung der Hartnäckigkeit und des Einfallsreichtums seines Großonkels unterdrücken – warum auch?

Obwohl der Hintergrund dieses Buches familiäre Züge trägt, liegt der Schwerpunkt in der minutiösen Organisation und Automatisierung der Massenvernichtung, wie sie unter Rudolf Höss in Auschwitz entwickelt wurde. Mit einer schaudernden Faszination schildert Harding nicht nur die Art der Maßnahmen und ihrer Durchführung, sondern vor allem die sachliche Atmosphäre, in der sie zwischen den Verantwortlichen diskutiert werden. Mehr als einmal fällt die Bemerkung, es sei zwar keine schöne Arbeit und psychisch sehr belastend, sie müsse jedoch aus „übergeordneten“ Gründen sein. Man weiß schließlich nicht, was grauenhafter ist: die Vernichtung selbst oder die sachliche und nüchterne Organisation in den höheren Verwaltungsstellen.

Thomas Harding hat mit diesem Buch einen zwar späten, aber wichtigen Beitrag zur Aufarbeitung des Holocaust geliefert. Sein Ansatz von zwei Biographien aus dem Lager der Täter und der Opfer bringt dabei noch einen weiteren Aspekt deutlich zum Vorschein. Zwar hatte Alexanders Familie – bis auf eine ältere Verwandte – noch „Glück im Unglück“, aber Opfer blieben sie dennoch. Harding lässt die Welt der Opfer und der Täter in diesem Buch in einer Weise aufeinandertreffen, die deutlich zeigt, wie wenig Integration, Leistung und Loyalität einer (diskriminierten) Minderheit gegen das reine, hasserfüllte Ressentiment auszurichten vermag.

Das Buch „Hanns und Rudolf“ ist im Deutschen Taschenbuchverlag (dtv) erschienen, umfasst 400 Seiten und kostet 24,90 €.

Frank Raudszus

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