Ästhetische Archäologie der Straße

Print Friendly, PDF & Email

Die Frankfurter Kunsthalle „Schirn“ zeigt in der Ausstellung „Poesie der Großstadt. Die Affichisten“ eine frühe Form der Straßenkunst.

Jacques Villeglé bei der Arbeit

Jacques Villeglé bei der Arbeit

Mit der zunehmenden Verbreitung der elektronischen Werbung auch in der Öffentlichkeit verschwindet Stück für Stück ein nicht immer als ästhetisch angenehm empfundenes Mittel der Werbung: das öffentliche Plakat. Dessen Nutzung unterlag in Deutschland zumindest nach dem Krieg strengeren Regeln als im Ausland, wo die Plakatwerbung zeitweise exzessiv genutzt wurde und teilweise noch genutzt wird. Neben kurzfristigen Ereignissen wie Wahlen, Konzerten und Sportveranstaltungen sieht man auf diesen Plakaten auch langfristige Werbung für Konsumgüter wie Automobile oder Getränke. Dabei reißen die Plakatwerber nach Freigabe der jeweiligen Fläche – d.h. nach Ablauf der letzten Nutzung – die alten Plakate nicht ab sondern überkleben sie einfach mit den neuen. Im Laufe der Jahre bilden sich dabei wahre Sedimentschichten der Abbildung gesellschaftlichen Alltags, von denen wir wie bei geologischen Sedimenten jedoch nur die oberste Schicht sehen.

"Marylin", 1962

„Marylin“, 1962

Diese Tatsache wurde bereits Ende der vierziger Jahre vor allem französischen Künstlern bewusst, während die deutschen in ihren Städten andere Sorgen hatten. Jacques Villeglé, François Dufrêne Raymond Hains begannen damit, wie „drei  Musketiere“ in heimlichen Einsätzen ganze Plakatschichten von den Wänden zu reißen und sie im Atelier künstlerisch zu bearbeiten. Dass sie dabei gegen Gesetze verstießen und die werbetreibenden Firman alles andere als amüsiert waren – zumindest am Anfang -, versteht sich von selbst. Doch lohnte die polizeiliche Verfolgung dieser ästhetischen Raubzüge offensichtlich den Aufwand nicht und hätte vor allem die traditionell freiheitlich gesinnte französische Öffentlichkeit wohl auch empört. So konnten die drei Künstler relativ unbehelligt ihrer Leidenschaft nachgehen. Diesem Trio gesellten sich bald der Italiener Mimmo Rotella und in gewissem Sinne auch der Deutsche Wolf Vostell zu.

In ihren Werken ließen sie die Plakate weitestgehend für sich sprechen. Meist beschränkten sie sich darauf, in ausgewählten Bereichen der Fläche untere Schichten freizulegen und damit eine Collage verschiedener ästhetischer Stilarten entstehen zu lassen. Denn auch wenn man das einzelne Werbeplakat zu Recht nicht als Kunst betrachtet, unterliegt es doch gewissen ästhetischen Gesetzen mit dem Ziel, die Aufmerksamkeit des Beobachters zu gewinnen. Je nach Gegenstand der Werbung kann die Form der Darstellung ganz unterschiedliche Gestalt annehmen. Lange Frauenbeine, wenn man die erotischen Phantasien der Männer ansprechen will, glitzerndes Metall mit Chrom, wenn es um deren Omnipotenzträume geht. Weiße Strände, Palmen, kühle Cola, harte Männergetränke…..

Francpis Dufrene: "Aperitif", 1960

Francpis Dufrene: „Aperitif“, 1960

All diese unterschiedlichen Themen und Darstellungsarten dekonstruierten die drei Künstler, indem sie den Zusammenhang des einzelnen Plakats aufbrachen und es mit willkürlich ausgewählten „Fetzen“ der tieferen Schichten optisch kombinierten. Von der obersten Schicht überlebte dabei oft nur noch ein geringer Prozentsatz, auch deshalb, weil diese bereits durch punktuelle Überklebungen unfreiwillig ironisiert worden war. Denn so manche Überklebung, die anfangs nur ihrem eigenen Zweck dient, baut durch Bild und Text bisweilen ein komisches, satirisches oder gar unbeabsichtigt zynisches Spannungsverhältnis auf.

Doch den Künstlern ging es weniger um die gesellschaftskritische Bewertung der einzelnen Plakate oder einzelne kritische Spannungsfelder. Sie begriffen diese Plakatlandschaften in erster Linie als ästhetische Herausforderung und versuchten eher, die farblichen und figürlichen Aspekte der verschiedenen Schichten zu einem Kunstwwerk „sui generis“ zu kombinieren. Dabei darf man ihnen mehr künstlerische Neugier als den großen künstlerischen Impetus unterstellen, denn das Material war ja gegeben und musste „nur“ entsprechend angeordnet werden.

Wolf Vostell: "Coca Cola", 1961

Wolf Vostell: „Coca Cola“, 1961

Da öffentliche Plakate zwecks Sichtbarkeit eine gewisse Mindestgröße aufweisen müssen, halten sich auch die Werke weitgehend an diese Größenordnung. Von Weitem wirkt dann so manches Werk wie ein impressionistisches Gemälde, zumal die Künstler bisweilen auch die rudimentären Formen bekannter Gemälde aus den Plakatschichten herausgekratzt haben, so etwa Gustav Klimts „Der Kuss“. Bleibt die Frage, ob diese Assoziation gewollt war oder nur im Auge des Betrachters entsteht. Geht man näher an die Werke heran, so entdeckt man richtiggehende Reliefs, wie man sie von einschlägigen Werken, meist kunstgewerblicher Provenienz, kennt. Um einen tiefliegenden Fläche einer Getränkewerbung ranken sich da die zerklüfteten Schichten verschiedener werbetechnischer Epochen wie Felshänge mit farbigen Sedimentschichten um einen See. Auch wenn sich der Betrachter bemüht, nur auf die ästhetische Wirkung dieser Werke zu achten und sie auf sich wirken zu lassen, sickern immer wieder die Texte bzw. ihre Bruchstücke ins Bewusstsein und bilden neben dem rein visuellen einen sozusagen literarischen Rahmen, der ein Eigenleben entwickelt. Man fühlt sich vor diesen alten Plakatfetzen wie ein Höhlenforscher oder wie ein Kriminalist, der bruchstückhafte Beweisstücke zu sichten und zzu bewerten hat. Das ist richtig spannend und kann einen Besuch in der Ausstellung unerwartet in die Länge ziehen.

Kuratorin Esther Schlicht von der Kunsthalle und Roland Wetzel vom Baseler Museum Tinguely haben von verschiedenen Leihgebern 150 Exponate für diese Ausstellung zusammengestellt. Dabei sind die Werke nicht streng nach Künstlern getrennt sondern werden einander immer wieder gegenüber gestellt, auch wenn es gewisse Häufungspunkte einzelner Künstler gibt. Zur Pressekonferenz erschien auch der einzig Überlebende dieses Fünfer-Clubs, Jacques Villeglé. Der mittlerweile 88jährige zeigte sich erstaunlich rüstig und erzählte mit klarer Stimme und in gut verständlichem Französisch von den wilden Jahren des „Affichisten“ in den fünfziger Jahren.

Die Ausstellung ist vom 5. Februar bis zum 25. Mai 2015 dienstags sowie freitags bis sonntags von 10 bis 19 Uhr, mittwochs und donnerstags von 10 bis 22 Uhr geöffnet. Nähere Informationen finden Sie hier

Frank Raudszus

, , , , , , ,

No comments yet.

Schreibe einen Kommentar