Arno Geiger: „Selbstporträt mit Flusspferd“

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Ein Roman über die Schwierigkeiten des Erwachsenwerdens.

Julian stammt vom Land und hat sich immer schon nach der großen, „coolen“ Stadt gesehnt, in der man etwas erlebt und der ständigen Beobachtung durch Familie und Nachbarn entgeht. Schon als neunzehnjähriger Student lernte er in Wien Judith kennen und ging mit ihr eine längere Beziehung ein. Doch gerade Judiths Offenheit und Zielstrebigkeit machten ihm Angst, und schließlich fühlte er sich durch ein von ihr durchgeplantes Leben derart eingeengt, dass er es zum Bruch kommen ließ. Dem Zuhörer bzw. Leser wird schnell klar, dass der junge Julian einerseits eine große Chance in seinem Leben leichtfertig verpasst hat, dass andererseits diese Entscheidung jedoch für ihn wichtig ist, um sich selbst zu finden.

1504_flusspferdOrientierungslos streift er nach der Trennung durch die Straßen Wiens und gefällt sich in Lebensüberdruss und Selbstmitleid, bis sein Freund Tibor ihm anbietet, für ihn als Tierpfleger einzuspringen. Es geht um ein Zwergflusspferd, das ein schwerkranker emeritierter Professor vor dem Verenden gerettet hat und auf seinem Grundstück hält. Bis zum Transport in einen Zoo muss das Tier ständig betreut werden.

Da gerade die Sommerferien begonnen haben, sagt Julian zu und fährt am nächsten Tag zu der angegebenen Adresse, wo er jedoch nur eine junge Frau mit französischem Akzent antrifft, die ihn etwas unwirsch behandelt und sich später als die Tochter des Professors herausstellt, die nach einer längeren Tätigkeit als Journalistin jetzt in das Haus des an den Rollstuhl gefesselten Professors zurückgekehrt ist, um sich um ihren Vater zu kümmern.

In den folgenden Wochen betreut Julian das Flusspferd, und die Verantwortung für das Tier bringt eine gewisse Struktur in sein ungeordnetes Leben. Gleichzeitig wirkt die schwerfällige Gleichmütigkeit des Flusspferds, die man fast als eine Art Fatalismus bezeichnen könnte, beruhigend auf seinen chaotischen Gefühlshaushalt. Denn Julian hat immer noch nicht mit der Beziehung zu Judith abgeschlossen, sondern hadert mal mit ihr und mal mit sich. Das Flusspferd entwickelt sich von Tag zu Tag zu einer Art „alter Ego“, dessen Unempfindlichkeit gegenüber den Wechselfällen des Lebens ihm wie eine zu erringende Charaktereigenschaft vorkommt. Doch Julian ist weit davon entfernt, sich dieses Sachverhalts bewusst zu werden. Vordergründig gehen ihm die Schwerfälligkeit des Tiers und die teilweise schmutzige und nicht ganz ungefährliche Arbeit sogar ein wenig auf die Nerven.

Da Aiko, so heißt die Tochter des Professors, fünf Jahre älter ist als er, betrachtet er sie nicht als potentielle erotische Beute sondern eher als Arbeitgeberin. Doch – sei es aus Langeweile oder aus der gegebenen ganztägigen Nähe – die beiden kommen sich näher, und eines lauen Sommerabend kommt es nach zwei gemeinschaftlich geleerten Flaschen Wein zu intensiven Intimitäten. Julians Seelenleben wird dadurch gründlich durcheinander gewirbelt, und er überlegt sich, wie es jetzt weitergehen soll. Doch Aiko beachtet ihn danach nicht mehr und zeigt durch ihr Verhalten deutlich, dass sie die gemeinsame Nacht nur als unverbindliche Affäre betrachtet und keine Fortsetzung wünscht. Das kränkt nicht nur Julians männliche Eitelkeit, sondern stürzt ihn auch in Verunsicherung und Selbstzweifel, da er nach der noch nicht überwundenen Trennung von Judith eine zweite erotische Niederlage nicht so schnell verdauen kann. Er wagt auch keine forsche Attacke oder eine grundsätzliche Aussprache, weil er vor einer endgültigen Ablehnung Angst hat. So scharwenzelt er um Aiko herum, in der Hoffnung, dass sie sich irgendwann erklärt.

Als sein Freund Tibor wieder zurückkehrt und einen Teil der Arbeit übernimmt, wächst auch noch der Stachel der Eifersucht, da Tibor ein zwar etwas oberflächlicher aber stets fröhlicher und zu einem Witz aufgelegter junger Mann ist, mit dem auch Aiko gerne ein wenig lacht. Dann lernt Julian auf einem Wochenende mit Tibor, dessen Freundin und einem weiteren Pärchen die Realität der erotischen Beziehungen aus der Perspektive des Beobachters kennen. Die beiden Paare streiten sich, man „flirtet über kreuz“ und betrügt einander, dann wieder beobachtet er, wie die jungen Frauen mit ihren Partnern und deren Schwächen umgehen. Die Fragilität und Unaufrichtigkeit dieser Beziehungen verunsichern ihn noch mehr, und er weiß nicht, ob eine Beziehung für ihn überhaupt noch erstrebenswert ist. Zurück auf dem Hof des Professors, kann er zwar die erotische Beziehung zu Aiko wieder aufnehmen, aber er gewinnt nie den Eindruck, dass sie sich endgültig für ein Leben mit ihm entschieden hat. Sie behandelt ihn trotz ihrer Bettgemeinschaft eher wie einen zeitweiligen Liebhaber und beschließt schließlich auch, ohne ihn nach Paris zurückzukehren. Für Julian bricht zwar keine Welt mehr zusammen, aber er lernt aus dieser Beziehung, dass seine Vorstellung von der einen, großen und ewigen Liebe eine Illusion ist. Viele Menschen – hier vor allem die Frauen – sind nur zu unverbindlichen oder befristeten Beziehungen bereit oder fähig und empfinden seine Vorstellung einer lebenslangen Bindung eher als lästig.

In dieser schwierigen Phase wäscht ihm auch noch Judith nach ein zwei eher organisatorischen Treffen zwecks Auflösung der ehemaligen Wohngemeinschaft den Kopf und wirft ihm seine Unreife, Arroganz und Selbstgerechtigkeit in deutlichen Worten vor. Julian ist getroffen, hat aber vom Flusspferd insofern gelernt, als er nicht mit ausufernden Rechtfertigungen und Gegenvorwürfen anwortet, sondern seiner Wege geht und der Dinge harrt, die da auf ihn zukommen werden. Ganz abgeschrieben hat er Aiko nicht und wird sie in Paris anrufen, aber ob es jemals etwas mit ihr wird, weiß er nicht. Im Laufe dieses Sommers ist ihm klargeworden, dass Erwachsenwerden ein schwierige Prozess ist und dass man das Leben erst in der Praxis kennenlernen muss, ehe man Theorien darüber entwickeln und Forderungen an seine Mitwelt stellen kann.

Der Sprecher Adam Nümm leiht der Hauptperson eine jugendliche Stimme, die alle Empfingungen zwischen Liebe, Frust und Verständnislosigkeit überzeugend zzum Ausdruck bringt. Man fühlt sich zurückversetzt in die eigene Jugend.

Das Hörbuch „Selbstporträt mit Flusspferd“ ist im Verlag Hörbuch Hamburg erschienen, umfasst sechs CDs mit einer Gesamtlaufzeit von 467 Minuten und kostet 19,99 Euro.

Frank Raudszus

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