Christoph Reuter: „Die schwarze Macht“ – Der „Islamische Staat“ und die Strategen des Terrors

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Eine fundierte Analyse des Aufstiegs und der Hintergründe des IS in Syrien und dem Irak.

Wenn die Weltgeschichte in kurzer Zeit unerwartete Wendungen nimmt, finden sich am Buchmarkt sofort mehr oder minder qualifizierte Interpreten der Entwicklung und der dazu führenden Ursachen, da das Interesse der Bevölkerung entsprechende Auflagen verspricht. Das gilt auch – und vor allem – für die rasante Expansion der islamistischen Terrorgruppe, die sich selbst als „Islamischen Staat“ bezeichnet und sich seit wenigen Jahren auf einem beispiellosen Siegeszug durch Syrien und den Irak befindet. Auch der auf diesem Gebiet stets präsente Jürgen Todenhöfer hat sich bereits mit einem Buch zu Wort gemeldet und damit die Bestellerliste des „SPIEGEL“ gestürmt.

1508_schwarze_machtChristoph Reuter dagegen steht mit dem hier vorgestellten Buch (noch) nicht auf dieser Liste. Das muss jedoch kein Nachteil sein und könnte sogar als Kompliment aufgefasst werden. Denn Reuter verzichtet auf jegliche marketinggerechte, plakative Aufmachung und lässt stattdessen seine Erfahrungen und sein Hintergrundwissen für sich sprechen. Als Islamwissenschaftler verfügt er  wahrscheinlich über mehr als ausreichende Kenntnisse über den nahen Osten und den Islam, und als SPIEGEL-Journalist berichtet seit längerem aus dieser Region und gehört zu den letzten Journalisten, die sich dort noch aufhalten.

Reuters Buch ist weder eine theoretische Abhandlung über das Phänomen „IS“ noch eine politische oder gar polemische Stellungnahme. Die hier geschilderten Fakten hat er aus zahlreichen Interviews geflüchteter Zivilisten, Rebellen, Soldaten und sogar IS-Kämpfer gewonnen. Darüber hinaus ist er in dem geschilderten Zeitraum des Öfteren persönlich in Syrien und dem Irak gewesen, was angesichts der Entführungen und Ermordungen westlicher Journalisten von großem Mut zeugt.

Reuter verweist darauf, dass der „IS“ von weiten Kreisen als ein religiös motiviertes Unternehmen gesehen wird, und zeigt, dass dies ein schwer wiegender Irrtum war (und vielleicht noch ist). Er weist aufgrund der Entwicklung der letzten zehn bis zwölf Jahre nach, dass es hier um professionellen Machterwerb und -erhalt geht. Dazu geht er das Thema streng chronologisch an und datiert den Beginn des „IS“ auf die Zeit nach dem Irak-Krieg und der konsequenten Entmachtung der Sunniten. Diese hatten unter Saddam Hussein konsequent eine lupenreine Diktatur aufgebaut und dabei gelernt, wie man mit Härte und Brutalität die Macht erhalten kann. Als unter den US-Amerikanern und dem schiitischen Präsident Maliki  die Sunniten  systematisch von der Regierungsbeteiligung und allen Ämtern ausgeschlossen worden, beschlossen die Offizierskader der ehemaligen irakischen Armee, in den Untergrund zu gehen.

An Al-Qaida konnten sie laut Reuter bald studieren, wie man es nicht macht. Al-Qaida bevorzugt(e) die spektakuläre Aktion, notfalls in dezentralen Zellen, legte jedoch keinen Wert auf eine straffe Organisation. In einigermaßen funktionierenden Staatswesen konnten sie zwar kurzfristig Angst und Schrecken verbreiten, waren dann aber dem gesamten Militär- und Polizeiapparat ausgesetzt und mussten sich in die Anonymität des Untergrund zurückziehen. Videobotschaften im Internet sorgten zwar für Aufmerksamkeit bei den eigenen Anhängern und den Gegnern, führten aber – ähnlich wie bei der RAF in den siebziger Jahren – nicht zu dem angestrebten Aufstand der Massen. Eher suchten die terrorisierten Völker Schutz bei der jeweiligen Staatsmacht.

Die sunnitischen Kader schlossen daraus, dass sie so etwas wie einen eigenen Staat gründen mussten, der nicht nur der unterworfenen Bevölkerung einen wie auch immer gearteten Schutz gewährte, sondern auch so etwas wie eine Infrastruktur für die weitere Entwicklung zur Verfügung stellte. Der war jedoch nur in einem mehr oder minder zerbrochenen Staat aufzubauen, in dem das dafür notwendige Machtvakuum herrschte.

Das Syrien des Bürgerkriegs bot hier die besten Voraussetzungen, und so setzten die Strategen des IS hier an. Sie boten sich den Rebellen als Mitkämpfer an und eroberten auf diese Weise schnell einige Gebiete. Für die Rekrutierung der dafür benötigten Kämpfer setzten sie auf eine zweite, parallele Strategie: aus den anderen nahöstlichen und aus westlichen Ländern – England, Frankreich, Deutschland – lockten sie die ausgegrenzten und frustrierten jungen Muslims mit religiös unterfütterten Allmachtsphantasien an, und sie kamen, wie man heute weiß. Doch Reuter zeigt deutlich, dass der religiöse Fanatismus nur als Vehikel dient, um eben diese Kämpfer anzuwerben. Denn hier können sie ausleben, wovon sie als „Loser“ in ihren jeweiligen Heimatländern nur träumen können: Macht über Menschen. Daneben lockten sie mit der Idee des „islamischen Staates“ auch viele professionelle muslimische Kämpfer aus einschlägigen Gebieten wie Tschetschenien, Pakistan und Afghanistan an.

Darüber hinaus verfolgt der Führungszirkel eine rein opportunistische Bündnisstrategie. Solange sie die syrischen Rebellen brauchten, kooperierten sie mit ihnen, sobald sie jedoch ausreichende Stärke gewonnen hatten, wendeten sie sich gegen sie und unterwarfen sie mit äußerster Brutalität, wo dies möglich war. Auch mehr oder minder abgesprochene Stillhalteabkommen mit Assads Armee gehörten dazu, die für bei den Vorteil hatten, dass die Rebellen geschwächt wurden. Für die Führer des „IS“ gilt nur die Macht, und dabei sind Bündnisse nur taktische Maßnahmen, die jederzeit aufgekündigt werden können.

Christoph Reuter weist diese Charakteristik des „IS“ an vielen militärischen und sonstigen Maßnahmen dieser Truppe nach. Dabei ist die Behandlung der Zivilbevölkerung ein wesentliches Element der IS-Strategie. Anfangs zeigen sich die IS-Kämpfer als Befreier und Freunde, kundschaften jedoch mit einem äußerst dichten Netz von Spitzeln möglichst schnell Eigenarten, religiöse und gesellschaftliche Vorlieben, Schwächen und wirtschaftliche Verhältnisse der Bevölkerung aus. Sobald sich die IS-Kämpfer in einem neu eroberten Gebiet etabliert haben, nutzen sie all diese Erkenntnisse für einen brutale und repressive Politi. Diese Unterdrückung ist jedoch nicht (nur) Selbstzweck, sondern dient bewusst dem Ziel, jede Opposition im Keim zu ersticken. Denn die IS-Kämpfer sind hochmobil, bleiben selten länger an einem Ort und können daher keine verlässliche Infrastruktur aufbauen. Die Sicherheit gegen Widerstand aus der Bevölkerung lässt sich daher nur durch äußerste Brutalität gewährleisten.

Reuter beschreibt diese Strategien und Vorgehensweise anhand der realen Fakten des mittlerweile vierjährigen Krieges des „Islamischen Staates“ gegen alle und jeden in Syrien und im Irak. Die rasche Expansion in Syrien mit der Unterwerfung weiter Gebiete gehört ebenso dazu wie der Sturm auf die Jesiden-Stadt Sinjar mit den schrecklichen Exzessen, der Kampf um Kobane oder die schnelle Eroberung von Mosul, bei der etwa tausend IS-Kämpfer weit über zehntausend gut ausgerüstete irakische Soldaten vertrieben und große Mengen modernsten Kriegsmaterials erbeuteten. In diesem Zusammenhang stellt Reuter die Frage nach dem Grund für den fluchtartigen Rückzug und lässt Korruption im irakischen Heer als mögliche Ursache im Raum stehen. Diese weit verbreitete Korruption, ob in Syrien oder im Irak, ob unter Sunniten oder Schiiten, sieht der Autor als einen Hauptgrund für die desolaten Verhältnisse und die geringe Loyalität der Bevölkerung und der Soldaten gegenüber der jeweiligen Staatsmacht.

Am Ende weist Reuter daraufhin, dass Lybien als zerfallener Staat das nächste Ziel des IS ist und dass sich die ersten Vorhuten bereits darum bemühen, die Kontrolle über die Transferrouten nach Zentralafrika – etwa zu Boko Haram – zu gewinnen. Was eine Ausweitung der IS-Expansion auf Nordafrika bedeutet, kann sich jeder ausmalen.

Die Zukunft von IS sieht Reuter skeptisch, ohne deswegen Optimismus zu verbreiten. Gerade die brutale, jede soziale oder ökonomische Vernunft verachtende Unterdrückung der Bevölkerung könnte seiner Meinung nach zu einer Revolte führen, und die Auspressung der Bevölkerung bringt die Wirtschaft derart zum Erliegen, dass der IS schließlich die eigene ökonomische Existenzgrundlage zerstören könnte. Auf der anderen Seite hat sich der IS in den letzten Jahren als derartig flexibel erwiesen, dass auch hier eine strategische Volte denkbar ist. Am Ende lässt Reuter die Frage nach der kurz- und mittelfristigen Entwicklung des IS offen und weist eher auf die Gefahr einer weiteren Expansion hin.

Wer sich ein fundiertes Bild der Geschehnisse der letzten Jahre in dieser Region verschaffen möchte, sollte dieses Buch unbedingt lesen. Klar und gut verständlich, konzentriert und nüchtern, ohne politische Scheuklappen und doch mit viel Empathie für die Opfer beschreibt Christoph Reuter die Katastrophe im Zweistromland zwischen Euphrat und Tigris.

Das Buch ist in der Deutschen Verlagsanstalt (DVA) erschienen, umfasst mit Anmerkungen und Register 350 Seiten und kostet 19,99 Euro.

Frank Raudszus

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