Rolf Lappert: „Über den Winter“

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Ein „Buddenbrook-Roman“ des frühen 21. Jahrhunderts über den Niedergang einer Familie.

Lennart Salm ist um die fünfzig und hat sich als Künstler mit provokanten Installationen eine durchaus überregionale Reputation erarbeitet. Wenn er sich nicht gerade in seinem – für einen Künstler obligatorischen – New Yorker Atelier aufhält, reist er durch die Welt, um Anregungen für neue Projekte zu finden. Derzeit hält er sich irgendwo an einem leeren, unwirtlichen Badeort im Süden Europas auf, an dessen Strand die Trümmer untergegangener Flüchtlingsboote angetrieben werden, unter anderem ein gekentertes Boot mit einer Säuglingsleiche. Angesichts dieses Schocks erwägt Salm, ein Kunstprojekt mit den traurigen Botschaften der Ertrunkenen zu planen, doch dann ruft ihn der Tod seiner Schwester zur Beerdigung nach Hamburg.

1602_lappert_winterSalm verspürt keine Sehnsucht nach der Familie und könnte auch ohne sie auskommen, doch schließlich überwindet er sich aus Gründen der Pietät, kauft sich die unbedingt erforderliche Beerdigungsausstattung und trifft bei der traurigen Familienfeier den Rest seiner Familie: die geschiedenen Eltern – der an den Rollstuhl gefesselte Vater und die herrschsüchtige Mutter -, die jüngere Schwester und den Bruder, von dem nur er weiß, dass er eigentlich nur ein Halbbruder ist, da er die Frucht eines Seitensprungs ist. Seinerzeit haben er und sein Vater das Paar unabhängig „in flagranti“ erwischt, was einerseits zur Scheidung führte und andererseits eine große Distanz Salms gegenüber seiner Mutter zur Folge hatte.

Anlässlich des traurigen Abschieds von seiner älteren Schwester lässt Salm nicht nur seine Kindheit und Jugend sowie das Verhältnis der Eltern zueinander und zu den Kindern Revue passieren, sondern der Autor gewährt zusätzlich aus der Perspektive des Allwissenden einen Einblick in das Vorleben der Eltern. Die Mutter stammt aus einem Diplomatenhaushalt und hat eine strenge Erziehung in einer Art Kloster genossen, die sie aus reinem Oppositionsgeist in eine Beziehung mit einem jungen Mann trieb, der selbst aus kleinen Verhältnissen stammte und schon früh seine beruflichen Träume begraben musste, um seinen nach einem Unfall querschnittgelähmten Vater zu pflegen. Der Makel einer vorehelichen Schwangerschaft war schließlich nur durch eine rasche Heirat zu tilgen, die wegen der charakterlichen und sozialen Diskrepanz von vorherein zum Scheitern verurteilt war. Selbst die ehelichen Kinder waren ureigene Entscheidungen der Mutter und hatten außer dem Zeugungsvorgang wenig mit dem Vater zu tun.

In diesem sprach- und lieblosen Elternhaus wuchsen die vier Kinder bis zur Trennung der Eltern auf und trugen jedes einen je eigenen Schaden davon. Lennart als der einzig „Wissende“ zog sich von der Mutter zurück und wendete sich dem Vater zu, ohne deswegen gegenüber diesem wortkargen und introvertierten Mann besondere Empathie zu entwickeln. Jetzt steht er vor seiner Familie und stellt fest, dass sie sich nichts mehr außer Banalitäten zu sagen haben. Zwar bemüht sich die jüngere Schwester, in einer Art naiver Direktheit die alte Vertrautheit aus Kindertagen wieder herzustellen, doch Salm empfindet auch ihr gegenüber nur freundliche Sympathie.

Die selbe Gleichgültigkeit empfindet er jedoch nach diesen Tagen auch seinem künstlerischen Beruf gegenüber. Eine lähmende Leere hat von ihm Besitz ergriffen, die jegliches Interesse an der Welt, der Kunst und den Menschen abtötet. Selbst sich selbst gegenüber empfindet er nichts, und eine suizidale Grundstimmung durchzieht seinen Alltag. Er schleppt sich von Tag zu Tag, durch nichtssagenden „small talk“ mit seiner Schwester und seinem Kreuzworträtsel lösenden Vater, kündigt seinem Mentor und Mäzen, der ihn erst zu einem bekannten Künstler herausgebracht hat, lakonisch das Ende seiner künstlerischen Tätigkeit an und zieht zu seinem Vater in sein altes Kinderzimmer. Doch nicht die kindliche Pflicht als Pflegekraft zieht ihn dorthin, denn den Vater betreut bereits eine Polin. Es sind eher die Routine aus Kindertagen – nach der Scheidung zog Lennart zum Vater – sowie die Rat- und Interesselosigkeit gegenüber der eigenen Zukunft.

Auch die Fruchtbarkeit der Familie Salm ist ein Thema, das den Autor bewegt. Keiner der drei ehelich geborenen Kinder hat – bzw. hatte – einen eigenen Partner oder gar Kinder. Lennart lebt in wechselnden Beziehungen, beendet diese jedoch jedesmal nach kurzer Zeit wegen gefühlter Enge. Im Grunde ist er bindungsunfähig.  Seine jüngere Schwester, auch schon Mitte vierzig, arbeitet eher unter ihren Möglichkeiten als Regieassistentin in einem kleinen Privattheater und lebt auch sonst eher wie eine Studentin. Sie ist nie erwachsen geworden und genießt das noch. Die verstorbene Schwester hatte sich dem Sozialen verschrieben und darüber eine eigene Familiengründung vergessen. So wird die Familie Salm irgendwann mit dem Tod der drei Kinder enden, und nur der jüngere Halbbruder wird den Namen unter anderen genealogischen Zeichen fortführen. Die metaphorische Bedeutung ist – wie bei den „Buddenbrooks“ – unübersehbar.

Salms Fokus auf seine Mitwelt wird sich immer weiter verengen. Als eine zarte Verbindung zur allein erziehenden Nachbarin an seiner Indifferenz scheitert, bleibt nur noch ein zugelaufenes Pferd als Objekt der Fürsorge. Man kann Salms Engagement für dieses arme Wesen mit einigem Recht als ein Zeichen aufkommender Empathie lesen, es bleibt aber auch der schale Beigeschmack der kleinbürgerlichen emotionalen Ersatzbefriedigung beim Tier im Gegensatz zu den als feindlich oder unzugänglich empfundenen Mitmenschen. Salm ist am Ende sozusagen „auf das Pferd gekommen“ – und der Fall ist tief: von New York nach Wilhelmsburg, vom weltläufigen Künstler zum potentiellen Hausmeister einer heruntergekommenen Immobilie.

Rolf Lappert geht in seinem Buch mit der bürgerlichen Gesellschaft ins Gericht und attestiert ihr Gleichgültigkeit, einen in die Vereinsamung mündenden Individualismus und den weitgehenden Verlust familiärer Werte. Die Lebensschiffe seiner Figuren treiben steuerlos dahin und werden irgendwann an einem zufällig im Fahrwasser treibenden Hindernis scheitern. Joachim Schönfeld liest dieses Buch mit der nötigen Mischung aus der äußeren Distanz und der inneren Ratlosigkeit des Protagonisten.

Das Hörbuch ist im Verlag „Hörbuch Hamburg“ erscheinen, umfasst  acht CDs mit einer Gesamtlaufzeit von zehn Stunden. und kostet 19,99 Euro.

Frank Raudszus

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