Ein Abend der Transzendenz und Transparenz

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Im 1. Sinfoniekonzert des Staatstheaters Darmstadt erklingen Werke von Charles Ives, Béla Bartók und Gustav Mahler.

Die Musik der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts stand an diesem Konzertabend auf dem Programm. Fast war es, als wolle GMD Will Humburg die Zeit für einen Abend um hundert Jahre zurückdrehen und den Zuhörern das Lebensgefühl der Generation zwischen Kaiserzeit und Bundesrepublik nahe bringen. Wenn er dies beabsichtigt hat, ist es ihm ausnehmend gut gelungen. Denn nichts zeigt die Zerrissenheit dieser Epoche eindringlicher als herausragende Musikbeispiele aus dieser Zeit. Dass er die Beispiel nicht in chronologisch aufsteigender Folge brachte, ist eher auf die jeweilige Musikgattung und die Traditionen des Musikbetriebs zurückzuführen. Steht doch das Solokonzert üblicherweise in der Mitte des Programms, und darauf folgt gerne eine große Sinfonie.

Charles Ives´offene Frage

Den Anfang eines Konzertabend bildet meist ein kurzes, gerne auch moderneres Stück. Charles Ives´ Komposition „The Unanswered Question“ aus dem Jahr 1906 gehört zwar nicht (mehr) zur modernen Musik, eignet sich jedoch wegen seiner Kürze und musikalischen Würze sehr gut für einen Konzertauftakt. Das ursprünglich nur für ein kleines Ensemble um eine Trompete und vier Flöten geschriebene Stück erklang in Darmstadt in der späteren Orchesterfassung. Zu Beginn legt das – nur aus Streichern bestehende – Orchester einen wie von ferne kommenden, gleichförmigen Klangteppich aus, in den die Flöten aus dem Off mit kurzen Kommentaren eingreifen. Dann erscheint ein Trompeter auf dem seitlichen Bühnenzugang und stellt eine fragende Klangfigur vor, auf die das Flötenquartett mit scheinbar unkoordinierten Tonfolgen antwortet. Das Spiel setzt sich einige Male fort, wobei der Trompeter langsam über die Grabenbrüstung zur anderen Bühnenseite schreitet und die Antworten der Flöten immer chaotischer werden. Die letzte Frage der Trompete bleibt unbeantwortet, und das Stück endet mit einem lautlosen Fragezeichen. Diese kurze Komposition trägt sowohl transzendente als auch humoristische Züge, je nachdem, welcher Interpretation man zuneigt, wobei sich die Frage stellt, ob beides sich verbinden lässt. Die Transzendenz wird schon im Titel angedeutet und setzt sich fort in Frage-Antwort-Spiel. Der Mensch stellt Fragen an seine Umwelt, und diese antwortet mit einer Kakophonie. Das erinnert jedoch auch ein wenig an Till Eulenspiegel. Die humoristische Aspekt mag auch daher stammen, das Charles Ives das Leben auch aus der Sicht eines erfolgreichen Versicherungsmaklers kannte und dadurch zwangsläufig über den Tellerrand des Musikbetriebs hinwegschaute.

Der Bratschist Antoine Tamestit

Der Bratschist Antoine Tamestit

Bratsche solo von Béla Bartók

Béla Bartóks Viola-Konzert op. post. SZ 120 stellt insofern eine Rarität dar, als die überwiegende Mehrheit der Solokonzerte für Streicher der Violine oder dem Cello gewidmet sind. Bartók jedoch bevorzugte in diesem Fall den dunkleren, „männlicheren“ Ton der Bratsche. Er komponierte dieses Konzert in seinem letzten Lebensjahr und konnte nur noch unübersichtliche Skizzen liefern, die später mühevoll zu einer stimmigen Partitur zusammengesetzt werden mussten. So fand die Uraufführung des 1945 komponierten Konzert auch erst im Jahr 1949 statt. In Darmstadt konnte man für dieses Konzert den international renommierten Bratschisten Antoine Tamestit gewinnen.

Das Konzert spiegelt unverkennbar Bartóks Erfahrungen mit Verfolgung, Flucht und Exil wider. Auch der Zweite Weltkrieg mit seinem Grauen dürften die Komposition beeinflusst haben, ließ doch diese „Urkatastrophe“ auch die Exilanten nicht unberührt. Das Konzert kennt keine erkennbaren Themen oder gar Melodien, die nach dem alten Scheme „Erstes Thema – zweites Thema – Exposition – Durchführung“ musikalisch ausgeformt werden. In diesem Stück werden nur noch kürzeste musikalische Figuren aneinander- oder eher einander gegenübergestellt. Die Instrumentierung dieser Figuren sorgt für teilweise schroffe Klangflächen aus Solo-Viola und Orchester, die ein Bild der Zerrissenheit und scharfer Kontraste vermitteln.

Der erste Satz beginnt mit Klangfiguren der Viola. Das Orchester wechselt zwischen sparsamer Begleitung der Viola und fanfarenartigen Einwürfen, die den intensiven Duktus des Solo-Instruments mit schroffen Klangstrukturen und abrupten Tempoänderungen konterkarieren. Man kann dieses ungleiche Zwiegespräch durchaus als Metapher für die Stellung des Individuums in einer aus den Fugen geratenen Welt interpretieren.   Der zweite Satz beginnt mit einer düsteren Begleitfigur in den Hörnern und ist von einem getragenen, fast schwermütigen Ausdruck geprägt. Im Finalsatz überwiegen dann rhythmische Elemente, die bisweilen an ungarische Volksmusik – um nicht zu sagen „Zigeunermusik“ – erinnern. Die Viola agiert hier vor allem im Wechselspiel mit Flöten und Klarinetten, und der Solist ist mit schnell wechselnden Griffen und musikalischen Figuren konfrontiert, die höchste Fertigkeiten erfordern. Nicht umsonst vermutete Bartók seinem Auftraggeber gegenüber, das bestimmte Passagen wahrscheinlich nicht spielbar seien. Doch Antoine Tamestit bewies an diesem Abend, dass solche Vermutungen – die früher über verschiedene Werke im Umlauf waren – im Zeitalter der perfekt ausgebildeten Solisten nicht mehr zutreffen. Er meisterte all diese schwierigen Stellen mit einer Selbstverständlichkeit, die den Schwierigkeitsgrad vergessen ließen. Und das Orchester unter der Leitung von Will Humburg folgte seinen wild bewegten Figuren mit hoher Aufmerksamkeit. Will Humburg gönnte sich des Öfteren einen Seitenblick auf den Solisten, um die Übersicht über das musikalische Geschehen zu behalten, denn Mimik und Gestik gehen dem Ton meist voran, und so kann ein guter Dirigent aus der visuellen Beobachtung des Solisten wertvolle Schlüsse ziehen. Auf das Gehör alleine kann man sich nicht verlassen, denn wenn der Ton bereits erklingt, kann es für eine Reaktion des Orchesters schon zu spät sein. Doch bei diesem Solokonzert stimmte alles, und sowohl Solist wie auch Orchester bewiesen, dass sie das gute Zusammenspiel nicht nur wollen sondern auch beherrschen.

Nach kräftigem Beifall spielte Antoine Tamestit noch zwei Zugaben, jedoch mit der Besonderheit, dass er es mit dem ersten Bratschisten zusammen spielte und diesem dabei die Rolle eines „Gleichen unter Gleichen“ gewährte. Die beiden hatten dabei offensichtlich viel Spaß – und das Publikum auch. Noch einmal viel Beifall.

Die Sopranistin Jana Baumeister

Die Sopranistin Jana Baumeister

Gustav Mahlers himmlische Vision

Nach der Pause stand Gustav Mahlers 4. Sinfonie auf dem Programm, deren Besonderheit die Integration einer Sopranstimme im Finalsatz ist. Mahler hat als einer von wenigen Komponisten versucht, die Stimme als Element der Sinfonie einzuführen. Wahrscheinlich hat er dabei nicht zuletzt an Beethovens „Neunte“ gedacht. Mit Mahler ging es noch einmal um ein knappes halbes Jahrhundert zurück in die vermeintlich selige wilhelminische Ära vor dem Ersten Weltkrieg. Mahler feiert in diesem Werk tatsächlich das Glück eines himmlischen Glücks, das nicht von dieser Welt ist. Das schlägt sich sofort im liedhaftem und fast tänzerischen Anfang des ersten Satzes nieder. Hier ist die Welt in Ordnung, und keine schroffen Klangbrüche stören das Bild. Die musikalischen Themen wechseln zwar oft, ebenso Rhythmik und Instrumentierung, doch das geht nicht zu Lasten der Eingängigkeit. Und nach kurzen Ausbrüchen des Orchesters folgt wieder heitere Ruhe. Das Scherzo des zweiten Satzes besticht durch avancierte Tonalität und Instrumentierung, die eine facettenreiche Klangfärbung zur Folge haben. Dieser Satz vermittelt den Eindruck einer Wanderung durch die Welt der Musik. Dabei fällt die kammermusikalische Struktur auf, da Mahler trotz eines großen Orchesters punktuell stets nur kleine Instrumentengruppen miteinander  agieren lässt. Der dritte Satz ist bereits ein Vorgriff auf das berühmte „Adagietto“ der fünften Sinfonie und besteht aus einfachen Themen, die jedoch mit höchster Intensität interpretiert werden. In diesem Satz erkennt man die Nähe zu Wagner am deutlichsten, sowohl in den langsamen, sehnenden Passagen, als auch in die bewegten. Letztere wirken bisweilen wie ein Aufruhr des Inneren, weichen jedoch bald wieder einer majestätischen Gemessenheit. Dann wieder erklingen orchestrale Fanfaren, unterstützt von Pauken und Hörnern. Den Schluss dieser Sinfonie bildet der kurze Finalsatz, der im Wesentlichen – von kurzen Zwischenspiel des Orchesters abgesehen – aus dem Gesangsteil der Sopranistin Jana Baumeister besteht. Sie trägt das Lied „Wir genießen die himmlischen Freuden“ vor, das im gesungenen Text noch einmal den musikalischen Inhalt der Sinfonie zusammenfasst. Danach endet die Sinfonie fast abrupt – ohne großen Schlussakkord.

Will Humburg und das Orchester boten hiermit eine Wanderung durch eine sich immer weiter öffnende Landschaft der Musik. Ringsum blühten förmlich die Motive und grünten die Klänge. Das musikalische Spektrum weitete sich mit jedem Satz und entführte die Zuhörer in eine ferne, heitere Welt. Es wäre allerdings ein Irrtum anzunehmen, dass diese Welt die des Kaiserreiches gewesen ist. Vielmehr hat sich Mahler mit dieser Musik in eine Wunschwelt begeben, um damit der Realität einen Alternative entgegen zu setzen. Dem Orchester ist es mit der detailgenauen, geradezu mit Liebe präsentierten Interpretation gelungen, beim Publikum eine Vorstellung dieser anderen Welt zu wecken. Jana Baumeister interpretierte den Text des Gedichtes mit viel Einfühlung in dessen Atmosphäre, hätte jedoch zeitweilig etwas prägnanter singen können.

Das Publikum spendete mehr als kräftigen, lang anhaltenden Beifall.

Frank Raudszus

 

 

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