Ein Abend höchster Anschlagskunst

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Für sein Konzert im Wiesbadener Kurhaus am 20. Juli hatte Grigory Sokolov ein scheinbar(!) unspektakuläres Programm zusammengestellt. Neben drei Haydn-Sonaten spielte er an diesem Abend vier Impromptus von Franz Schubert. Doch es zeigte sich, dass es in seinen Händen keine „unspektakulären“ Klavierwerke gibt, und er jedem einzelnen Werk ganz besondere, vielleicht nie in dieser Gestalt wahrgenommene Aspekte entlocken bzw. verleihen kann.

RMF 2018: Grigory Sokolov, Klavier im Friedrich-von-Thiersch-Saal im Kurhaus Wiesbaden
© RMF / Ansgar Klostermann

Joseph Haydn gilt als Begründer der Klassik und als Wegbereiter Mozarts und Beethovens. Vor allem letzterer wirft mit seinen 32 Klaviersonaten einen so dunklen und weiten Schatten, dass Haydns Klaviersonaten darin ein wenig an Sichtbarkeit verloren haben. Sie gelten heute weithin als leicht und frisch, aber ohne großen Tiefgang. Eben Unterhaltungsmusik für den fürstlichen Auftraggeber. Grigory Sokolov bewies an diesem Abend, dass diese Einschätzung falsch ist.

Am Anfang stand die Sonate Nr. 32 in g-Moll, ein nur zweisätziges Werk. Sokolov nahm ihm von Beginn an die beliebig-heitere Färbung und brachte dagegen einen nachdenklichen, fast schon introvertierten Ton ein. Dies erreichte er weniger durch eine Verlangsamung des Tempos als vielmehr durch minimale Anschlagsvarianten, die man später auch wieder bei Schuberts Impromptus verfolgen konnte. Vor allem die geringfügig längere Anschlagsdauer vermittelte eine Atmosphäre von Ratlosigkeit und Zweifel, die bereits dem ersten Satz ein ganz anderes Gewicht verlieh und so gar nicht zu dem üblichen Haydn-Bild passte. Dem zweiten Satz gewann bei Sokolov eine langsam schreitende Aura, und der Vortrag entwickelt sich im Laufe des Satzes zu einem tiefen, insistierenden und punktuell dramatisch gesteigerten Gespräch zwischen Sokolov und dem Flügel, der buchstäblich zu antworten schien.

Die darauf folgende Sonate Nr. 47 in h-Moll begann straff, fast schon stürmisch. Den ausgedehnten ersten Satz mit seiner umfangreichen Duchführung gestaltete Sokolov mit breiter Ausdruckspalette, in der das Unverbindlich-Heitere nur eine Nebenrolle spielte. Auch hier brachte er seine Sicht auf Haydns Musik und die eigene Lebenserfahrung ein. Im langsamen „Menuetto“ des zweiten Satzes schien Sokolov jedem einzelnen Ton nachzulauschen, während er den dritten mit seinem hämmernden Thema fast schon kämpferisch präsentierte, wobei die linke Hand immer wieder die Akzente setzte.

Die Sonate Nr. 49 in cis-Moll beginnt rhythmisch eigenwillig. Sokolov strukturierte den ersten Satz vor allem durch kurze Pausen und „Breaks“ – wie man im Jazz sagt -, die dem musikalischen Fluss einen plötzlichen Einhalt gebieten. Sokolov gelang es, diesem Satz durch Anschlag und Tempovarianten eine Prägung emotionaler Zerrissenheit zu verleihen, die man bei anderen Interpretationen so nicht hört. Dagegen wirkte der zweite Satz – wider die Erwartung ein „Scherzando“ – zwar etwas frischer, aber gleichzeitig auch rebellischer. Unter diesem Scherzando stellt man sich keinen heiteren Dorftanz, sondern einen Aufruhr vor. Der letzte Satz lieferte dann den erwarteten langsamen Satz nach, hier mit „Menuetto“ übertitelt. Sokolov interpretierte diesen Satz mit einer derartigen Intensität, dass man ihn nicht nur als Abschluss dieses ersten Teils, sondern auch als Fazit von Sokolovs Haydn-Bild verstehen musste, das neue Seiten des Komponisten enthüllte.

Schuberts „Impromptus“ spielen angesichts seiner Klaviersonaten eine „gefühlte“ Nebenrolle. Da sie nicht der Sonatenform entsprechen, werden sie auch gerne als Gelegenheitswerke missverstanden. Grigorij Sokolov zeigte an diesem Abend, dass sie komplexe und anspruchsvolle musikalische Werke der selben „Klasse“ darstellen. Die vier Impromptus op. posth. 142 bilden nach Einschätzung einiger Experten Teile einer Sonate, die Schubert eventuell einzeln herausgeben wollte. Grigorij Sokolov dürfte die zweite Impromptu-Sammlung op. posth. 142 bewusst ausgewählt haben, da sie seinem bereits im ersten Teil des Konzerts bewiesenen Willen zu einer Auseinandersetzung mit dem existenziellen Kern anspruchsvoller Musik am weitesten entgegenkommt. Die erst nach Schuberts Tod veröffentlichte Sammlung ist – vor allem in den Eck-„Sätzen“ in f-Moll  – geprägt von höchstem musikalischen Anspruch, aber auch von Abschied und Todesahnung. Die beiden leichteren in As- und B-Dur könnte man als Erinnerungen an schönere Zeiten betrachten.

Grigorij Sokolov zeigte von Anfang an, dass er diese Impromptus als gleichwertig mit Schuberts großen Sonaten betrachtet, und interpretierte sie auch mit entsprechender Intensität und Aussagekraft. Auch hier verlieh seine Anschlagskunst diesen Impromptus ihren je eigenen Ausdruck: dem einleitenden in f-Moll neben den weit gefächerten Themen die ausgeprägte Liedhaftigkeit, dem zweiten in As-Dur seine quirlige Leichtigkeit, dem dritten in B-Dur – nach seiner Schauspielmusik „Rosamunde“ –  die Sehnsucht und dem letzten, wieder in f-Moll, eine fast schon gespenstisch anmutende Jenseitigkeit, die man auch als Schlusspunkt eines (Musiker-)Lebens interpretieren kann. Damit hatte Sokolov am Ende dieses Abends einen großen Kreis geschlossen: von der – heute etwas unterschätzten – Frühklassik eines Joseph Haydn bis zum Ende der Klassik mit Schuberts Tod. So wie das letzte Impromptu verklingt, geht auch die Klassik zu Ende.

Ein ganz eigenes Konzert an diesem Abend waren die fünf(!) Zugaben, die Grigorij Sokolov dem Publikum buchstäblich „schenkte“. Es begann mit einem weiteren Impromptu von Franz Schubert (Nr. 4 in As-Dur aus der ersten Sammlung), gefolgt von einem eher Scarlatti zuzuordnenden Klavierstück, dann noch drei weitere Stücke. So unterschiedlich diese einzelnen Zugaben ausfielen, folgten sie doch einem durchdachten Konzept einer allgemeinen Steigerung. Hatte man nach der dritten Zugabe mit ihrem langsam verklingen Ende schon gedacht, jetzt sei Schluss, fügte Grigorij Sokolov noch zwei ganz andere hinzu. Bei Licht besehen waren das keine „leichten“ Stücke zum Ausklang, sondern ein dritter Teil, der den ersten beiden im Anspruch in keiner Hinsicht nachstand.

Die Zahl der Zugaben, üblicherweise mit der Intensität des Beifalls korreliert, sagt alles über den Erfolg dieses Abends.

Frank Raudszus

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