Kurt Bayertz: „Interpretieren um zu verändern“ – Karl Marx und seine Philosophie

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Karl Marx hat den Satz geprägt, die Philosophen interpretierten die Welt, es gehe jedoch darum, sie zu verändern. Dieser Satz ist auch die Grundlage von Marx´ eigener Theorie über den Gang der Geschichte, die davon ausgeht, dass alle Veränderungen nicht vom Denken, sondern vom Handeln der Menschen ausgehen. Damit widersprach er Hegel und den Idealisten, die die Ideen und gar einen „Weltgeist“ – Hegel – als Grund für die Entwicklung der menschlichen Gesellschaft sahen.

Kurt Bayertz geht es in seinem Buch nicht darum, ob Marx mit seinen Theorien recht hatte, sondern um deren Inhalten und ihren logischen Aufbau. Dazu untersucht er erst einmal die Begriffe wie „Materialismus“ und „Idealismus“, arbeitet ihre verschiedenen Varianten – der Materialismus geht zum Beispiel an dem einen Ende in einen deterministischen Naturalismus über – heraus und diskutiert anschließend die Begriffe „Theorie“ und Praxis“. Marx sah die Praxis (der Arbeit) als Grundlage aller Entwicklung, musst aber die Theorie und ihre Vertreter in sein Weltbild einbauen, da er selbst kein „Praxisarbeiter“  – sprich „Proletarier“ – war und sich und seinen Mitstreiter Engels nicht selbst ad absurdum führen konnte. Den Theoretiker und seine Arbeit sah er laut Bayertz als Wegbereiter für die historisch „notwendige“ Umwandlung des Kapitalismus in den Sozialismus durch das Proletariat.

Bayertz kristallisiert die Elemente der Marxschen Theorie in einer klaren, aufeinander aufbauenden Struktur sukzessive heraus. Die Basis bilden die „Produktivkräfte“ der Gesellschaft, die sich aus dem täglichen Handeln der arbeitenden Bevölkerung ergeben und entwickeln. Unter der Not und dem Druck der täglichen Arbeit entwickeln sich diese Produktivkräfte weiter und ändern damit die „Produktionsverhältnisse“, und diese wiederum konstituieren die Struktur der Gesellschaft. Praktische Politik und daraus folgende ökonomische oder politische Ereignisse sind jedoch Einzelfälle ohne notwendigen Bezug zu den darunter liegenden Schichten.

Bayertz verdeutlicht dabei die logischen und strategischen Probleme bei der Definition der einzelnen Schichten. Für Marx war die Entwicklung vom Kapitalismus zum Sozialismus eine „notwendige“ Entwicklung. Dabei musste er jedoch den Eindruck eines alle Handlungsbereitschaft lähmenden Determinismus vermeiden. Die fortschreitende Entwicklung der Produktivkräfte aus der täglichen praktischen Arbeit (des Proletariats) ergab sich für ihn ebenfalls notwendig aus seiner materialistischen Sicht, doch musste er sich dabei vor einem kruden Naturalismus in Acht nehmen, dem andere Vertreter des Materialismus verfallen waren und der einem Automatismus gleichkam. Da war der Weg zum religiösen Glauben nicht mehr weit. Bayertz zeigt deutlich an verschiedenen Äußerungen Marx´, das er sich dieses Problems bewusst war, es jedoch mit rein logischen Argumenten nicht lösen konnte. Daher unterscheidet Bayertz oft sehr genau zwischen politisch-polemischen Äußerungen (z. B. gegen den Idealismus oder die Religion) und theoretischen Ausführungen.

Ähnliches gilt für die „Revolution“, die den Übergang vom Kapitalismus zum Sozialismus als unvermeidlich realisieren soll. Trotz der zu Marx´ Zeit regen revolutionären Aktivitäten in ganz Europa sah er diese Revolution nicht unbedingt als gewaltsamen Vorgang sondern eher als eine überfällige Umwandlung der kapitalistischen Strukturen in sozialistische. Seine Kapitalismustheorie vom sinkenden Profit wegen der Konzentration auf wenige Firmen führte zwangsläufig zum Ende des Kapitalismus. Bayertz kann diese (falsche) Theorie noch nachvollziehen, fragt sich aber zu recht, warum nach dem (notwendigen!) Ende des Kapitalismus zwangsläufig(!) etwas „Besseres“, ein „Fortschritt“ kommen müsse. Es könnte ja auch alles zusammenbrechen. Diesen logischen Kurzschluss muss Marx in späteren Jahren geahnt haben, er war jedoch zentral für seine Theorie. Deshalb hat er laut Bayertz die Zwangsläufigkeit auch nicht mehr betont, sondern das Handeln des Proletariats in den Vordergrund gestellt. Das führt jedoch aus logischer Sicht nicht zwangsläufig zu einem gesellschaftlichen Fortschritt, sondern unterliegt dem Prinzip Hoffnung.

In diesem Zusammenhang greift Bayertz auch Marx´Geschichtsverständnis auf. Dessen Annahme, dass die Weiterentwicklung des Kapitalismus quasi zwangsläufig sei, legt eine teleologische Geschichtsauffassung nahe. Ganz abgesehen davon, dass eine solche Auffassung der von Marx heftig bekämpften Theologie – „Opium fürs Volk“ – gefährlich nahe kommt, widerspricht sie in gewissem Maße Marx´ Ansicht, das praktische Handeln des Menschen – und hier speziell des Proletariats – treibe die Geschichte voran. Eine à priori zielgerichtete Entwicklung der Geschichte nimmt dem menschlichen Handeln jedoch jede Bedeutung. Laut Bayertz muss auch Marx diese Widersprüche bemerkt haben, wie sich aus einzelnen textlichen Änderungen ablesen lasse, doch es dürfte für den alternden Marx sehr schwer gewesen sein, anzuerkennen, dass seine Theorie schwerwiegende Mängel aufwies, zumal auch der Kapitalismus keine Anstalten machte, schnell dahin zu schwinden. Er musst mit den – nicht mehr dialektisch zu überwindenden – Widersprüchen seines Historischen Materialismus leben, und weiterhin fest an ihn glauben.

Bei der Entwicklung der Produktivität weist Bayertz zwar auf einige Unstimmigkeiten der Argumentation hin, doch prinzipiell kann er die Auffassung nachvollziehen, dass sich die Weiterentwicklung der Produktivität aus der täglichen praktischen(!) Arbeit des Menschen ergibt. Das mag für viele Fälle der Werkzeugentwicklung auch zutreffen – so kann man etwa die Erfindung des Rades auf das Rollen von Baumstämmen zurückführen -, die wirklich einschneidenden technologischen Umbrüche beruhen jedoch nicht auf der täglichen Arbeit, etwa die Erfindung des Buchdruck (Gutenberg war kein schreibender Mönch), der Elektrizität oder der Dampfmaschine. In diesen Fällen waren kreative Erfinder am Werk, die ihre Erfindung eben nicht aus der Alltagsarbeit ableiteten, sondern aus wissenschaftlichen Erkenntnissen und Ideen. Dies einzugestehen hätte jedoch für Marx bedeutet, einen Eckpfeiler seiner Theorie aufzugeben. Dabei hätte er es in allen drei Beispielsfällen bereits zu seiner Zeit nachvollziehen können.

Bayertz geht es jedoch nicht darum, Marx zu widerlegen, sondern seine Denkweise im Detail zu entschlüsseln und ihre logische Struktur zu analysieren. Das gelingt ihm in diesem Buch hervorragend, und der klare, nüchterne Stil erleichtert die Verständnis dieses komplexen philosophischen und gesellschaftlichen Themas.

Das Buch ist im Verlag C.H.Beck erschienen, umfasst 272 Seiten und kostet 24,85 Euro.

Frank Raudszus

 

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