Karen Duve: Fräulein Nettes kurzer Sommer – Roman über die seelische Zerstörung der Annette von Droste-Hülshoff

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Karen Duves neuer Roman „Fräulein Nettes kurzer Sommer“ umfasst die Jahre 1817 bis 1821 im Leben der Annette von Droste-Hülshoff. Duve geht es um die seelische Zerstörung der klugen und rebellischen jugendlichen Annette, die mit scharfem, analytischem Blick ihre Umwelt kommentiert. Dabei kennt sie keinen Respekt vor den Geistesgrößen, die im Hause ihres Vaters und im Hause ihres Onkels August verkehren.
Als sie noch sehr jung ist, erkennt ihr Onkel August ihr Talent zum Schreiben. Als aber deutlich wird, dass sie für seine eigenen Ambitionen eine Konkurrenz darstellen könnte, tut er alles, um ihre Gedichte und ihr ganzes Verhalten als unschicklich und unweiblich abzuwerten.

Sein bürgerlicher Freund Heinrich Straube, der selbst schreibt, dagegen erkennt die poetische Kraft der jungen Frau. Duve entwirft ein detailliertes Bild von der tiefen Zuneigung, die sich zwischen Annette und Straube entwickelt und mit der die beiden dem Standesdenken der Familie trotzen wollen.

Eine hinterhältig von dem auch verliebten August von Arnswald eingefädelte Intrige zerstört diese Beziehung. Schlimmer noch ist, dass Annette als unmoralisch und als Verräterin der Gefühle Straubes verleumdet wird. Dabei entlarvt Duve die Doppelmoral der adligen Familie, die zuvor Straubes Hoffnung auf das „Freifräulein“ als anmaßend verhöhnt hat. Schwerer wiegt jetzt die angebliche Verletzung der weiblichen Würde, die zur Ächtung Annettes in der Verwandtschaft führt. Der Druck auf die junge Frau wird so groß, dass sie für Jahre das Schreiben aufgibt, sich in Selbstanklagen und Selbstzweifeln ergeht und sich schließlich den herrschenden Rollenvorschriften für ein sittsames Adelsfräulein unterwirft. Erst nach mehreren Jahren findet sie zum Schreiben zurück.


Duve stellt das Schicksal der jungen Annette in den Kontext einer Gesellschaft, die zwischen Aufbruch in die Moderne und dem Festhalten an alten Rollenmustern und Standesdenken schwankt.
Die junge Männergesellschaft, die sich an der Universität Göttingen trifft, pflegt in Studentenvereinigungen und Burschenschaften einen Männlichkeitskult, der zum einen deutschtümelnde, rückwärtsgewandte Tendenzen erkennen lässt, zum anderen weltoffene und kritische Intellektualität verspricht. Hier säuft man, duelliert sich, obwohl es verboten ist, plant die eigene Poeten-Zukunft, träumt von der Herausgabe großer Sammlungen. Frauen sind von dieser Welt ausgeschlossen, das gilt für die Adelssöhne in gleicher Weise wie für die Bürgerssöhne. Frauen nimmt man sich für die Ehe, ein Verhältnis auf Augenhöhe ist nicht vorgesehen. Eine Ausnahme ist Heinrich Straube, der auf eine Beziehung zu Annette baut, die auf gemeinsamem Interessen an Literatur und an der Natur beruht. Diese Beziehung aber wird im Kein zerstört.


Karen Duve hat umfangreich für ihren Roman recherchiert, wie man an dem 12 1/2 -seitigen Literaturverzeichnis sehen kann, das eher einer Dissertation als einem Roman anstünde.
Hier stellt sich auch die Frage, warum Duve die Form des Romans gewählt hat, obwohl sie mit ihrem Material eine präzise biographische Arbeit hätte liefern können.
Sie entscheidet sich für eine Romanform, die an den Realismus des 19. Jahrhunderts erinnert: Viele Dialoge, die häufig sehr kleinschrittig das Alltagsgeschehen widerspiegeln, endlose Kutschfahrten auf den verschlammten Straßen, genaue Ortsbeschreibungen, die an den Anfang eines Fontane-Romans erinnern: „Jetzt aber lösten die Nebel sich auf, am Himmel erschien ein Bernsteinstreifen und am gegenüberliegenden Hang wurde der Bökerhof mit seinem blaugrauen Mansardendach und den turmartigen Seitenflügeln sichtbar – das Schloss, ein Schlösschen eigentlich, der Familie von Haxthausen. Die Ackerflächen lagen in einem Halbkreis darum herum und gleich daneben lag das Dorf …“ Das ist formaler Anachronismus, der auch nicht durch die zeitweiligen Perspektivwechsel gelindert wird, wenn Duve unvermittelt die Ereignisse aus der Innensicht Annettes, Straubes oder von Arnswalds darstellt.


Schade, dem Stoff hätte als Roman eine gestraffte, auf die wichtigen Figuren zugespitzte Form gut angestanden, die den Lesern/Leserinnen Leerstellen für Interpretation und Verständnis geboten hätte. Das lässt Duve nicht zu; so fügt sie im Epilog noch die tatsächlichen weiteren Lebenswege der Protagonisten an. Das hätte der/die geneigte Leser/Leserin auch selbst bei Wikipedia nachlesen können.

Der Roman ist im Galiani-Verlag erschienen, hat 566 Seiten und kostet 25 Euro.

Elke Trost

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