Judith Schalansky: Verzeichnis einiger Verluste

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Was für ein Buch! Judith Schalansky fordert mit ihrem neuen Buch „Verzeichnis einiger Verluste“ ihre Leserinnen und Leser heraus. Aber wer sich auf sie einlässt, wird reichlich belohnt, er wird in entfernte Wissensgebiete, in versunkene Zeiten, in ferne Zukunft entführt.
Zwölf ganz unterschiedliche Texte kreisen um die Themen Verlust, Vergessen und Erinnerung. Sie sind der gemeinsame Bezugspunkt für die Beispiele, die unterschiedlicher nicht sein könnten: Tuanaki, ein versunkenes Südsee-Atoll; der ausgestorbene kaspische Tiger; das mythische Einhorn; die verfallene italienische Villa Sacchetti; ein verlorener Film von Friedrich Wilhelm Murnau; die nur in Fragmenten überlieferten Verse der Sappho; ein niedergebranntes Schloss in Pommern; die nahezu ganz vernichteten Schriften des persischen Religionsgründers Mani; der zu einem Rinnsal versiegte Fluss Ryck, der einst Greifswalds Hafen mit der Welt verband; das von einem Sonderling auf Schrifttafeln niedergelegte Weltwissen, das von den Erben nahezu komplett entsorgt wurde; der abgerissene Palast der Republik; die weitgehend verlorenen Mondkarten des Pfarrers Kinau aus Suhl.

Jeder Text beginnt mit einem lexikalischen Eintrag, der die wichtigsten Informationen zu dem jeweiligen Gegenstand enthält. Manch ein Thema wird dem Leser, der Leserin völlig unbekannt sein und ihn/sie animieren, vor dem Weiterlesen erst einmal Wikipedia zu befragen, um noch mehr Informationen zu erhalten. Damit führt Schalansky ihre Leser jedoch zunächst auf eine falsche Fährte. Ihr geht es vielmehr darum, wie bloßes lexikalisches Wissen lebendig wird und lebendig bleibt.
Es sind die Erzählungen von konkreten Ereignissen, von Menschen, die handeln, fühlen, Ideale haben, Fehler machen. Erst durch menschliches Erleben werden Fakten, Ereignisse, Daten bedeutsam. Wiederentdecken, wie Menschen gelebt haben, was sie zu bestimmten Entscheidungen getrieben hat, was sie hat scheitern lassen, das schafft Zusammenhänge. Hier beginnt die Überlegenheit der Literatur über das in Archiven gespeicherte Wissen.

Was macht zum Beispiel den Untergang der den meisten von uns unbekannten Insel Tuanaki bedeutsam? Schalansky erzählt dazu die Geschichte von Kapitän Cook, der die Insel gesucht hat, aber nicht anlanden konnte. Sie erzählt von den friedlichen Menschen auf dieser Insel, die vor Herrschaft und Krieg auf der Nachbarinsel geflohen sind. Sie wollen nur noch Frieden. Und so geht ihr Anführer zu einer friedlichen Begrüßung an Bord des fremden Schiffes. Für die Seefahrer sind die Inselbewohner die Fremden, tatsächlich aber sind sie selbst die Fremden in diesem Teil der Erde.

Mit dieser Erzählung wird die vergessene Insel zu einem Ort der Hoffnung und des Trostes, dass es friedliches Leben geben kann. Tief in der Vergangenheit leuchtet ein Paradies auf, in dem fremde Menschen sich als gleiche begegnen. Diese Geschichte von der Insel Tuanaki wird mir als Leserin im Gedächtnis bleiben, während ich die genauen Koordinaten ihrer Lage wohl vergessen werde.

Oder was wissen wir über den „kaspischen Tiger“, der seinen Namen von dem Fluss Tigris in seiner ursprünglichen Heimat erhielt? Er ist um 1964 ausgestorben. Warum soll uns das weiter interessieren?
Judith Schalansky erzählt dazu von dem grässlichen Schauspiel des Kampfes zwischen Tiger und Löwe, an dem sich die Menschen im antiken Rom weideten. Sie fühlt sich in das Leiden der Tiere ein, in den widernatürlichen Kampf zweier prachtvoller Lebewesen, die sich in der Natur nie begegneten. Der erzählende Blick in die weit entfernte Vergangenheit holt diese Ereignisse ganz nah heran an die Gegenwart des Lesers, die Erfahrung der menschlichen Hybris gegenüber der Tierwelt erfüllt noch die Nachgeborenen mit großer Trauer, so schafft die Erinnerung Bedeutung.

In ihren zwölf Texten führt Judith Schalansky die Vielfalt erzählerischer Darstellung vor: Da ist z. B. die subjektive Innensicht der Erzählerin, für die sich in einer nebelverhangenen Gebirgswelt innere und äußere Realität vermischen; da ist der innere Monolog der Greta Garbo, die die Diskrepanz zwischen ihrem äußeren Ruhm einerseits und ihrer inneren Leere und ihrem Selbstzweifel andererseits nicht versteht. Und da ist die Erzählerin, die in der 3. Person die große Geschichte des radikalen, von seiner Mission als Religionsstifter besessenen Persers Mani erzählt.
Alle Geschichten führen die Leser in fremde Welten, sie decken dabei Wissensbereiche auf, über die die Leser oft nur staunen können. Wer weiß schon, dass es Überlegungen gibt, den Mond zu einem riesigen Speicherort für alles menschliche Wissen und Leben zu machen? Dass Wissenschaftler versuchen, in Quarzkapseln gegossene DNA als ewige Datenspeicher zu benutzen?

Die Absurdität einer solchen Sammelwut entlarvt Judith Schalansky in ihrer letzten Erzählung. Hier lässt sie den Mondforscher Kinau aus einer weit entfernten Zukunft sprechen, in der er nach seinem irdischen Leben als Archivar auf dem Mond lebt. Ihm obliegt es, Ordnung in das zu Speichernde zu bringen, was angesichts der unübersehbaren Datenmenge immer strengerer Auswahlkriterien bedarf. Der Archivar muss dabei äußerste Objektivität walten lassen, subjektive Vorlieben, Sehnsüchte oder Wünsche eines irdischen Lebens sind nicht erlaubt. Als er eines Tages den Mondkarten seines irdischen Namensvetters begegnet, wird in ihm die Sehnsucht nach irdischen Leidenschaften und Gefühlen wach. Er erkennt die Sinnlosigkeit von bloßem Sammel- und Speicherwahn. Das ist für ihn Ausdruck des Hochmuts der menschlichen Gattung, die meint, für alle Ewigkeit und für das ganze Universum von sich zeugen zu müssen.
Der lunare Archivar sieht den einzigen Ausweg in der Zerstörung seines ausgeklügelten Mondspeichers. Er sieht gerade im Vergessen die Voraussetzung dafür, dass wir uns an Wesentliches erinnern können.

Hier liegt die Quintessenz von Judith Schalanskys „Vereichnis einiger Verluste“: Was wesentliche Erinnerung ist, bestimmen die damit verbundene Erfahrung und das gelebte Leben. Erinnerung kann man lernen, Vergessen nicht.

Judith Schalansky macht es ihren Lesern nicht leicht, ihr zu folgen. So dicht ist ihre Sprache, so kunstvoll sind ihre oft langen Satzperioden, dass sie die volle Konzentration des Lesers erfordern, ihn aber auch mitreißen, wenn er sich einlässt. Der Gewinn ist groß angesichts der sich auftuenden Wissensbereiche und der zahlreichen Anstöße zu weiterer Forschung und Reflexion über alles, was sie aus dem Bereich des Verfalls, des Vergessens, der Zerstörung ans Licht holt.

Für die wirklich lustvolle Auseinandersetzung mit dem Buch sollte man sich das Vorwort für den Schluss aufbewahren, denn hier nimmt Judith Schalansky – leider? – vieles an Erklärung und Deutung vorweg, was die geneigten Leser sich gerne selbst erschließen werden.
Am Ende ihrer Überlegungen steht ein vehementes Plädoyer für das Buch als Speichermedium. Zwar sei das Papier nicht so dauerhaft wie Papyrus und Pergament und das Buch den „neuen, körperlosen Speichermedien“ unterlegen und insofern ein konservatives Medien, das aber „gerade durch die Abgeschlossenheit seines Körpers, in dem Text, Bild und Gestaltung vollkommen ineinander aufgehen, wie kein anderes die Welt zu ordnen, manchmal sogar zu ersetzen verspricht.“

Für Schalansky ist dieses ganzheitliche Verständnis des Buches so wichtig, dass sie auch die graphische Gestaltung selbst übernimmt. Das „Verzeichnis einiger Verluste“ ist mit einem anthrazit-schwarz-melierten Einband versehen, jedem Kapitel ist ein solches dunkel-meliertes Blatt vorangestellt, auf dem sich nur bei genauem Hinsehen eine schemenhafte Gestalt des versunkenen, verschollenen, zerstörten Objekts befindet: Ein Fragment aus Sapphos Gedichten, ein Fetzen aus Manis Predigten, die ursprüngliche Form des Palastes der Republik …
Diese Skizzen verweisen auf alle Inhalte: Nur dem genauen Hinsehen erschließt sich die Bedeutung.

Das Buch ist im Suhrkamp Verlag erschienen, hat 252 Seiten und kostet 24 Euro.

Elke Trost

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