Klangrausch der Jahrhundertwende

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Das 6. Sinfoniekonzert des Staatstheaters Darmstadt fiel insofern aus der Reihe, als es entgegen der Gepflogenheit kein Solo-Konzert anbot. Das lag jedoch weniger an einem Mangel von Möglichkeiten als vielmehr an dem Volumen der geplanten sinfonischen Werke. Allein Anton Bruckners 7. Sinfonie nimmt ja nach Tempo bis über eine Stunde Spielzeit in Anspruch. Da bleibt bei einer Gesamtdauer von zwei Stunden und einer Pause von zwanzig Minuten nicht mehr viel Zeit für ein Solokonzert und dem üblichen modernen Stück.

Als Gegenstück zu Bruckners Sinfonie hatte man sich für Arnold Schönbergs „Fünf Orchesterstücke op. 9“ entschieden. Der Grund für diese Paarung bestand nicht zuletzt darin, dass beide Kompositionen ein üppig ausgestattetes Orchester benötigen, die erforderliche Orchestererweiterung also effizient genutzt werden konnte.

Schönberg-Portrait von Egon Schiele

Zwischen Bruckners 7. Sinfonie (1881-83) und Schönbergs Orchesterstücken (1909) liegen nur fünfundzwanzig Jahre, doch hinter diesem Vierteljahrhundert verbirgt sich ein gefühltes Jahrhundert bezüglich der musikalischen Struktur. Bewegt sich Bruckner noch ganz im harmonischen und thematischen Bereich der Spätromantik, so hatte Schönbergs deren – gegenüber der Klassik schon aufgeweichten – Konventionen endgültig hinter sich gelassen und komponierte nach einem freien System, in dem nur noch der Klang galt. Der heute neutral gebrauchte Begriff der „atonalen“ Musik wurde damals von konservativen Kritikern als bewusst abwertender Kampfbegriff für die Musik Schönbergs und seiner Schüler benutzt.

Die fünf Orchesterstücke experimentieren mit den Klangfarben eines großen Orchesters. Dabei treten durch die Überblendung einzelner Instrumente oder ganzer Instrumentengruppen, die sich nicht in dem herkömmlichen Harmoniegerüst bewegen, völlig neue Klangeffekte auf, die man in dieser Form in Klassik und Romantik nicht kannte. Erzeugt schon die horizontale Entwicklung von Melodielinien in einem freien harmonischen Raum völlig neue Klangwirkungen, so steigert sich dieser Effekt noch bei der Überlagerung der Instrumenten(gruppen) und führt zu völlig neuen Klangräumen. Schönberg hat dies in fünf ganz unterschiedlichen Stücken im Einzelnen durchgespielt. Die von ihm nur widerstrebend und auf Wunsch des Musikverlegers geschaffenen Titel – seine Klangexperimente folgten keiner programmatischen Absicht lassen sich nur eingeschränkt für die Charakterisierung der einzelnen Stücke heranziehen. Mal steht die Schärfung klanglicher Effekte bis zur schmerzhaften Dissonanz im Vordergrund, mal die minimale klangliche Variation aufeinanderfolgender Akkorde. Auch die Dynamik und die Tempi variieren nach diesem Prinzip, so dass ein mehrdimensionales musikalisches Klanggebilde entsteht, das völlig neue Stimmungen entstehen lässt. Wer die Klangräume spätromantischer Musik im Kopf hat, kann verstehen, dass das Publikum Schönbergs Musik reserviert bis ablehnend gegenüber stand.

Das Orchester arbeitete die Kontraste und die daraus entstehenden Klangwirkungen mit hoher Präzision und Gespür für die Vielfalt der unterschiedlichen Klänge heraus, und wer sich dieser Musik vorurteilslos aussetzt, erkennt darin den Fortschritt gegenüber einer Musik, die sich in festen harmonischen und thematischen Rahmenbedingungen abspielte.

Anton Bruckner (Gemälde von Ferry Bératon)

Diese Musik kam dann im zweiten Teil zu Gehör, sozusagen in Form eines „Rückschritts“. Denn Bruckner hielt sich noch weitgehend an das herkömmliche Harmoniegerüst und setzte auch noch auf erkennbare und durchgehende Themen. Der erste Satz beginnt geradezu majestätisch mit weit gespannten Streicherbögen. Dem einprägsamen und fast ein wenig lieblichen Hauptthema folgt ein wuchtiges Nebenthema, und über längere Strecken nimmt dieser Satz choralartige Züge an. Deutliche Rhythmus- und Tempowechsel verleihen dem Kopfsatz Struktur und Lebendigkeit, und die Kontraste von Flöte und Tuba prägen entwickeln sich geradezu zum Charaktermerkmal des Satzes.

Der zweite Satz – Adagio – beginnt düster, nimmt dann aber im weiteren verlauf innig-melancholische Züge an. Kurz vor dem Ende steigert er sich zu einem apotheotischen Crescendo, um dann in leiseren Tonlage langsam zu verklingen.

Das Scherzo des dritten Satzes kommt drohend und fast unterweltlich daher, wallt dann auf und verzehrt sich in wiederkehrenden Frage-Antwort-Passagen zwischen verschiedenen Instrumentengruppen. Das wiederkehrende absteigende Stakkato verleiht dem gesamten Satz trotz des lyrischen Zwischenspiels einen endzeitlichen Charakter im Sinne eines „dies irae“.

Dagegen beginnt der Finalsatz fast schon heiter und deutet so etwas wie Erlösung an. Lange, getragene Passagen verströmen Abgeklärtheit und Gottvertrauen, die Hörner und Tuba tragen mit ihren fanfarenartigen Einsätzen so etwas wie verhaltenen Jubel bei. Die ausgeprägten Generalpausen sorgen für Innehalten und Wechsel der musikalischen Perspektive, bis das große Finale schließlich mit einem stetig ansteigenden Crescendo den spätromantischen Klangrausch fast schon hymnisch beendet.

Das Orchester leistete bei dieser Interpretation Schwerarbeit in puncto Konzentration und Präsenz. Trotz der Fülle der Klänge gingen die einzelnen Stimmen und Instrumente keinen Augenblick im Gesamtklang verloren, die Blechbläser beeindruckten durch klare, fehlerfreie Intonation und die Holzbläser mit ihrem warmen Timbre. Die Streicher sorgten für einen raumfüllende Klangunterlage, und Dirigent Daniel Cohen leitete die Aufführung mit sparsamen aber präzisen Armbewegungen.

Frank Raudszus

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