Bernhard Schlink: „Abschiedsfarben“

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In diesem Buch erzählt Bernhard Schlink neun Geschichten vom Abschiednehmen. Die Texte nehmen oft überraschende Wendungen und enden ganz anders, als man anfangs glaubte.

„Der Sommer auf der Insel“ beispielsweise schildert eine Reise von Mutter und pubertierendem Sohn an die See. Es ist das erste Mal, dass der Junge seine Mutter ganz für sich hat, ohne Konkurrenz durch den Vater oder die Schwester. Es ist auch das erste Mal, dass er seine Mutter als Frau wahrnimmt. Er findet sie schön und genießt das Zusammensein mit ihr. Während des Urlaubs trifft er auch auf Zwillingsmädchen in seinem Alter. Die anfangs recht schüchtern wirkenden Mädchen entpuppen sich später als raffiniert und reifer als der Junge und führen ihn in erste sexuelle Handlungen ein. Außerdem plaudern sie ein Geheimnis seiner Mutter über die Beziehung zu einem fremden Mann aus. Das alles wirbelt die Gefühlswelt des Jungen wild durcheinander. Doch die Mutter geht humorvoll mit der Situation um und erklärt ihm, dass Sexualität nichts Falsches an sich habe und durchaus Spaß machen könne. Hier liefert Schlink eine freidenkerische Erklärung jenseits aller moralisierenden, schlechtes Gewissen verbreitenden Vertuschungen. Das ist durchaus amüsant zu lesen.

Weniger amüsant aber ebenso überraschend ist die Geschichte „Picknick mit Anna“. Ein älterer Herr – er bezeichnet sich selbst als „Buchdoktor“, der aus schlechten Manuskripten gute Bücher macht – trifft auf Anna, ein fröhliches, sehr hübsches Mädchen aus der Nachbarschaft. Er beobachtet sie oft vom Fenster aus und findet sie ausgesprochen liebreizend. Als Anna schlechte Noten aus der Schule mitbringt, ergibt sich für ihn die Chance, ihr Nachhilfeunterricht zu erteilen. Dabei kommt er ihr niemals zu nahe. Alles läuft korrekt ab, das Mädchen entwickelt sich schulisch immer besser und saugt alles Wissen auf wie ein trockener Schwamm.

Einige Jahre später wird Anna im Eingang des Hauses gegenüber der Wohnung des Lektors tot aufgefunden. Die Polizei stellt dem älteren Herr die eindringliche Frage, ob er dem Mädchen tatsächlich beim Verbluten zugesehen habe, ohne Hilfe zu holen. Der Leser nähert sich bei der Lektüre dieser Passage immer mehr der Gefühlswelt des Lektors, der am Ende doch nicht so unschuldig ist, wie er anfangs vorgab. Auch hier wertet Schlink nicht, sondern überlässt dem Leser das Urteil.

Es sind besondere Erzählungen ohne belehrende moralische Urteile, was sie lesenswert macht und Spielraum für eigene Gedankengänge lässt. Vielleicht revidiert mancher Leser auch die ein oder andere Moralvorstellung, denn die Menschen sind nie „gut“ oder „böse“, sondern in der Realität äußerst vielschichtig. Genau diese vielfältigen Varianten des menschlichen Daseins sind Schlinks Anliegen.

Das Buch ist im Diogenes-Verlag erschienen, umfasst 232 Seiten und kostet 24 Euro.

Barbara Raudszus

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