Eine wahre Lust zu schauen

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Das Städel-Museum in Frankfurt verfügt über gut 600 Zeichnungen niederländischer Künstler. Für die Kuratoren und auch für Kunstinteressierte ist es ein wahrer Jammer, dass diese Werke wegen der schädigenden Wirkungen des Tageslichts die meiste Zeit in abgedunkelten Schränken liegen, was ihrem ursprünglichen und eigentlichen Zweck diametral entgegen läuft. Es ist wirklich ein Dilemma: entweder man zeigt sie permanent, bis sie vollständig verblasst sind, oder man schließt sie auf Ewigkeiten weg, so dass sie zwar nicht verblassen, aber auch niemand sie sehen kann.

Jan van Huysum, Eine Krabbe

Daher entschloss sich die Leitung des Museums, als erste Aktion nach der Corona-Pause einen Teil dieser Sammlung dem Publikum in einer Ausstellung unter dem Titel „Schaulust“ zugänglich zu machen. Dazu wählte man 81 Werke mit unterschiedlichen Motiven aus, die stellvertretend das Selbstverständnis und den Kunstsinn der Niederländer dieser Epoche widerspiegeln.

In den Niederlanden änderten sich im Jahrhundert der Aufklärung sowohl die allgemeine gesellschaftspolitische als auch die kulturelle Sicht auf die Welt. Nach dem erfolgreichen Griff der niederländischen Kauf- und Seeleute nach der Welt und deren Gütern war das Land zu erheblichem Wohlstand gekommen, und das Bürgertum musste nicht mehr um das tägliche Leben kämpfen. Die Befreiung vom spanischen Joch im 17. Jahrhundert tat ein Übriges für das Selbstverständnis der Niederländer.

Johannes Huibert Prins,
Ansicht einer niederländischen Stadt, 1790

Laut Dr. Sonnabends hörenswertem Vortrag – fast wie eine Uni-Vorlesung! – bildeten sich in den Niederlanden zunehmend bildungsbürgerliche Zeichenvereine, die sich zum gemeinsamen Zeichnen und Diskutieren trafen. Innerhalb dieser speziellen Kultur schälten sich schon bald die wahren Talente heraus, die dieses Handwerk dann zu ihrem Beruf machten. Im Rahmen des erstmals national eingefärbten Selbstverständnisses wollte man das eigene Land mit dem Mittel der Zeichnung sozusagen kartografieren. Man zeichnete also alles, was die Städte, die Landschaft und der Alltag hergaben: Stadtansichten, Gebäude, Landschaften, Menschen, Tiere und Pflanzen. Darüber hinaus hörte man von den Gemälden berühmter Maler aus den Niederlanden und anderen Ländern, konnte diese Werke aber mangels Photographie, Fernsehen, preiswerter Reisen und Internet nicht in Augenschein nehmen. So entwickelten begabte Zeichner das Geschäftsmodell, solche Gemälde „vor Ort“ abzuzeichnen und den Niederländern für die Betrachtung oder zur Ausschmückung des Hauses zu verkaufen.

Die Ausstellung ist in fünf Bereiche unterteilt: den Anfang machen Figuren- und Kompositionsstudien ohne besonderen inhaltlichen Schwerpunkt, mythische Szenen und antike Landschaften. Der zweite Bereich zeigt Zeichnungen, die typische niederländische Gebäude oder Landschaften wiedergeben. Hier schlägt sich die Selbstvergewisserung des Bürgertums nieder. Im nächsten Bereich findet man Fauna und Flora: inländische und exotische Tiere, einheimische und auch fremde Pflanzen, die mit Liebe zum Detail und auch zur Farbe gezeichnet wurden. Hier beachte man die Zeichnung einer Krabbe, die wegen ihrer geradezu spektakulären Naturtreue der Oberflächenbeschaffenheit einen Höhepunkt darstellt.

Johannes Huibert Prins,
Ansicht einer niederländischen Stadt, 1790

Portraits von einfachen oder bekannten Bürgern des Landes bilden ein weiteres Feld. Hier setzt sich die Auftragskunst der Rembrandt-Zeit in bodenständiger Manier ohne „Verschönerung“ der Portraitierten fort. Die Künstler erstellten diese Skizzen oder fertige Zeichnungen nicht im Auftrag wohlsituierter Kaufleute, sondern auf eigene Rechnung entweder aus zeichnerischem Antrieb oder in der Hoffnung auf einen freien Verkauf als künstlerische Zeichnung. In diesen Bereich fallen auch die „Kopien“ berühmter Gemälde.

Die Landschaftsdarstellung, in der niederländischen Kunst immer schon ein Schwerpunkt, bildet den letzten Bereich. Hier gestalteten die Künstler ihre ländliche Umgebung allerdings nicht nur in naturalistischer Weise – das auch! -, sondern vor allem als Ideal, wie sie die heimische Landschaft sahen oder sehen wollten. Ganz so idyllisch wie auf den meisten Zeichnungen dürfte es in den Zeiten offen fließender Gossen, baufälliger Bauernkaten und schmutziger Hafenanlagen nicht ausgesehen haben, aber das schmälert natürlich nicht die Qualität der Zeichnungen. Den politischen Protest der Kunst gegen die sozialen Verhältnisse kannte man damals noch nicht.

Wer diese Ausstellung besuchen möchte, sollte genügend Zeit mitbringen, denn jedes Bild eröffnet einen neuen Blick nicht nur auf die Kunst des 18. Jahrhunderts, sondern vor allem auch auf das Selbstgefühl und die Weltsicht dieser Epoche. Die Ausstellung ist noch bis zum 10. Januar 2021 geöffnet. Näheres ist auf der Webseite des Städel-Museums zu erfahren.

Frank Raudszus

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