David Grossmann: „Was Nina wusste“

Print Friendly, PDF & Email

Dieser Roman bricht mit großer sprachlicher und inhaltlicher Wucht über den Leser herein. Er kriecht schleichend in die Blutbahn und schraubt sich langsam nach oben in die Gehirnwindungen. Man kann sich ihm nicht mehr entziehen, wenn man sich einmal darauf eingelassen hat – und das geschieht schon nach wenigen Seiten der Lektüre.

Vera, die Großmutter, feiert im israelischen Kibbutz ihren neunzigsten Geburtstag. Aus diesem Anlass sind ihre Tochter Nina und ihre Enkeltochter Gili nach Israel gekommen. Aber es wird keine übliche „nette“ Geburtstagsfeier, denn hier geht es um die Wahrheit, um eine Spurensuche und um unerträgliche Wunden, mit denen alle drei Frauen zu kämpfen haben.

Es geht aber auch um die große Liebe zwischen Vera und Milos, die diese beiden zu Titos Zeiten zu einem neuen Wesen verschmolzen hat. Aus dieser tiefen Beziehung ist Nina hervorgegangen, die sechs Jahre lang geliebt und umsorgt wurde, um dann plötzlich auf die Straße gesetzt zu werden, wo sie von da an alleine überleben musste. Die grausame Entwurzelung, dieses Herausgerissensein aus einem gesunden Familienverbund hat Ninas Wesen grundlegend verändert. Sie lässt seitdem keine Gefühle mehr zu, überlebt zwar, aber immer am Rande des Suizids.

Gili ist Ninas und Rafaels Tochter. Sie wird einen Film drehen und als Scriptgirl alles aufschreiben, was Großmutter Vera über ihr Leben berichtet. Sie wird darüber hinaus alle Regungen von Nina und Rafael sowie ihre eigenen Gedanken und Ängste festhalten und in den Film einfließen lassen.

Als die drei Frauen und Rafael schließlich nach Kroatien auf die frühere Gefängnisinsel Goli Otok reisen und Vera dort über den grauenhaften Aufenthalt in einem Gulag berichtet, wird es für den Leser nahezu unerträglich zu lesen, was Menschen einander antun können. Hier sollte Vera in zwei Jahren und zehn Monaten zu einer angepassten Bürgerin unter Tito umgepolt werden. Hier auf Goli Otok erklärt Vera schließlich auch, weshalb sie damals ihre sechsjährige Tochter im Stich lassen musste. Musste sie wirklich? Gab es keine andere Möglichkeit, als das Kind zu opfern, um Milos nicht zu verraten?

Der Roman basiert auf wahren Begebenheiten. Eva Panic-Nahir hat David Grossmann ihre Lebensgeschichte erzählt und den Autor zu dieser intensiven Schilderung dreier Frauenschicksale inspiriert. So grausam der Text oft daherkommt, überwiegt doch die große Menschlichkeit, die in ihm steckt.

Das Buch ist im Hanser-Verlag erschienen, umfasst 348 Seiten und kostet 25 Euro.

Barbara Raudszus

No comments yet.

Schreibe einen Kommentar