Markus Gabriel: „Fiktionen“

Print Friendly, PDF & Email

Der erst vierzigjährige Autor dieses Buches ist bereits Lehrstuhlinhaber für Erkenntnisphilosophie an der Universität Bonn und leitet darüber hinaus weitere Institutionen aus diesem Forschungsbereich. Dies nur als Einordnung des intellektuellen Niveaus des vorliegenden Buches, das sich weder zur Unterhaltung noch als Einschlaflektüre eignet. Es fordert von seinen Lesern hohe Konzentration und die Bereitschaft, sich auf äußerst komplexe Gedankengänge einzulassen und – zumindest zu versuchen – die Schlussfolgerungen nachzuvollziehen.

Der Mensch verfügt über fünf Sinne, die ihm Zugang zur Umwelt und deren Erfassung ermöglichen. Doch das Bild der Welt baut sich der menschliche Geist erst aus diesen Sinnesdaten zusammen, dass heißt er erschafft eine „Fiktion“ aus den physischen Signalen der Sinnesorgane. Schon Descartes hatte die „Wahrheit“ dieser Deutung des Geistes angezweifelt und war bei der minimalen Schlussfolgerung „Cogito ergo sum“ gelandet.

Gabriel geht die Frage nach der Wirklichkeit nicht von den Sinnesorganen sondern von den Fiktionen des Geistes an. Dabei stellt sich sofort die Frage nach der Beschaffenheit des menschlichen Geistes, den man neurobiologisch oder spirituell deuten kann.

Bei den Fiktionen beginnt er mit der Kunst, weil hier der fiktionale Charakter deutlich zu Tage tritt. Die „Wirklichkeit“ künstlerischer Fiktionen lässt sich nur sehr vordergründig bezweifeln, da sie für das individuelle wie gesellschaftliche Leben eine zentrale Rolle spielen. Auch wenn es das „Gretchen“ aus Goethes „Faust“ – Gabriels bevorzugtes Beispiel – als physische Frau natürlich nicht gibt, ist die Figur dennoch „wirklich“, weil sie in einem gewissen Bereich des menschlichen Lebens eine große Wirkung ausübt. Ähnliches gilt für Musik und Romane. In diesem Zusammenhang weist Gabriel darauf hin, dass künstlerische Fiktionen ihre Wirklichkeit erst in der Interpretation erwerben. Nicht das Papier eines Buches oder die Noten einer Sinfonie sind als fiktionales Kunstwerk „wirklich“, sondern erst die Aufführung, die jedesmal einen neuen Schöpfungsakt darstellt.

Dieses Beispiel zeigt, dass es verschiedene „Wirklichkeiten“ gibt, je nach dem Sinnzusammenhang. So existieren „Gretchen“ und „Angela Merkel“ nicht in demselben Sinnzusammenhang, aber sie existieren. Gabriel etabliert hierfür den Begriff „Sinnfeldontologie (SFO)“, der aus beliebig vielen Sinnfeldern bestehen kann, die einen jeweils eigenen, durchaus auch überlappenden Sinnzusammenhang darstellen. Die verschiedenen „Gegenstände“ des menschlichen Umfelds, ob fiktional oder nicht, lassen sich dann diesen Sinnfeldern konfliktfrei zuordnen.

Damit verzichtet Gabriel bewusst auf einen umspannenden Erkenntnisbegriff, der alles, was ist, „aus einem Punkt“ heraus erklären will, wie es zum Beispiel die Religion immer wieder versucht, dabei aber auf Erkenntniskonkurrenten trifft, die es theoretisch nicht geben dürfte. In diesem Zusammenhang verweist er auch auf die Paradoxien, die solche allumfassenden Erklärungen beinhalten, etwa, wenn man den erkennenden Geist selbst als Teil der – umfassend – zu erkennenden Welt einbeziehen muss und sich dabei in unendlich rekursiven Schleifen verfängt.

Unter dem Titel „Mentaler Realismus“ beschäftigt sich Gabriel intensiv mit den verschiedenen Verfahren – man möchte fast sagen: Ideologien – der Erkenntnistheorie. Die reichen vom naiven Realismus, der alles per Sinnesorgan Erfasste unhinterfragt als „wahr“ betrachtet, bis zum Illusionismus, der die ganze Welt nur als „konstruierte“ Fiktion des Geistes sieht. Dabei stellt sich natürlich sofort die Frage nach dem „Geist“, der sich dann ja auch selbst konstruieren müsste – eine logisch unhaltbare Behauptung. Gabriel erteilt dem Illusionismus eine klare Absage und stellt in diesem Fall die – unwiderlegbare? – Hypothese auf, dass der Geist „nicht hintergehbar“ sei. Das bedeutet, der (menschliche) Geist kann sich selbst mit den eigenen Mitteln weder herleiten noch im Universum verorten. Er „ist“ einfach, was Gabriel aber nicht naturalistisch verstanden wissen will im Sinne einer spirituellen Naturtheorie mit unbegrenzten Schöpferqualitäten. Die logischen Schwächen einer solch „romantischen“ Erkenntnistheorie liegen für ihn klar auf der Hand.

Bei der Deutung der uns umgebenden „Gegenstände“ unterscheidet Gabriel zwischen „fiktiv“, „imaginär“ und „intentional“. Erstere sind die Gegenstände, die wir nicht kennen, etwa die „dunkle Materie“ (Beispiel des Rezensenten). Sobald wir uns eine Bild davon machen oder gar eine Hypothese, wird daraus ein imaginärer Gegenstand, das heißt, wie wir uns den fiktiven Gegenstand vorstellen. Das kann total falsch sein, ohne dass der fiktive Gegenstand deshalb verschwindet. Der imaginäre Gegenstand ist also die Repräsentation des fiktiven im menschlichen Geist. Ein intentionaler Gegenstand schließlich ist einer, den wir aus einer Teilansicht heraus vervollständigen, weil wir den Gegenstand als solchen bereits []zu] kennen [glauben]. Als Beispiel sei ein Schiff genannt, das wir von vorne sehen, aber sofort seine Seiten- und Rückansicht im Geiste „sehen“ und damit das Schiff als Ganzes. Als Gegenbeispiel eines nicht-intentionalen Gegenstandes sei die Sonne genannt, die als Ganzes „da ist“ und nicht erst im Geist vervollständigt werden muss.

Als letztem großen Thema wendet sich Gabriel den „sozialen Fiktionen“ zu. Dem liegt die Theorie vor allem der französischen „Konstruktivisten“ zugrunde, die alles Soziale als bloßes – ideologisches? – Konstrukt des menschlichen Geistes gedeutet haben. Das war als Gegenbewegung zu gewissen naturalistischen oder religiösen Vorstellungen des „gut“ und „sozial“ geborenen oder gar erschaffenen Menschen nachvollziehbar, aber in der letzten Konsequenz für Gabriel nicht haltbar. Der Haupteinwand kommt wiederum nicht aus der normativen sondern aus der logischen Richtung. Wie kann der menschliche Geist das „Soziale“ überhaupt erkennen und definieren, wenn er nicht ein Vorverständnis davon besitzt? Die existentiellen – sozialen – Überlebensbedingungen des Menschen können nicht von einem Geist konstruiert werden, der keine Vorstellung davon hat. Darüber hinaus ist der Sozialforscher im Gegensatz zum Naturwissenschaftler, der ein – in erster Näherung! – externes Objekt untersucht, selbst Teil des (sozialen) Untersuchungsgegenstands. Die „Konstruktivisten“ hätten demnach sich selbst gleich mitkonstruiert – ein logischer Zirkelschluss!

Für Gabriel ist der Mensch durch seine Geburt ein soziales Wesen. Das hat nichts mit einer kruden Evolutionstheorie zu tun, die Gabriel übrigens in mancher Hinsicht sehr skeptisch beurteilt, sondern mit den Überlebensbedingungen des „menschlichen Tieres“ (Zitat Gabriel), dessen Wesen – „per definitionem“, möchte man fast sagen – sozial ist, was aber nicht unbedingt heißt „gut“. Der Mensch benötigt ein Minimum an Gemeinschaft mit seinesgleichen, um zu überleben, und sein sozialer Charakter hilft ihm dabei. Dass man darauf soziale Systeme aufbauen kann, versteht sich von selbst, ohne dass das gesamte soziale Wesen fiktional sein muss. Ein wichtiger Aspekt dabei ist die „Intransparenz“ der Gesellschaft, d. h. die systembedingte Unkenntnis der Absichten und Gedanken der Mitmenschen, in welchem hypothetischen Falle ein gesellschaftlicher Determinismus möglich und damit das Soziale hinfällig wäre. In diesem Zusammenhang beschäftigt sich Gabriel auch intensiv mit der Aufstellung und Einhaltung von Regeln, die für ihn nicht nur konstruiert sondern Teil des menschlichen Lebens und Folge der erwähnten Intransparenz und dem „Zwang“ zum Vertrauen sind.

Zum Schluss folgt noch ein kurzer Ausflug in das Feld der Mythologie und der Ideologie mit einigen erhellenden Anmerkungen und ein Exkurs zu der Digitalisierung und den „sozialen Medien“. Der Digitalisierung bescheinigt Gabriel eine zu schwammige Definition, die für künftige Hoffnungen geradestehen muss, und die sozialen Medien sieht er als reale Gefahr nicht nur für die Demokratie sondern vor allem für den Geist selbst. Die Plattformen (Facebook et al.) bieten eine Bühne für die Selbstdarstellung des Individuums, die sich immer weiter von der Wirklichkeit entfernt. Damit entfernt sich auch der Nutzer immer weiter von der analogen Wirklichkeit, entwickelt eine suchtartige Abhängigkeit von dem Medium und gibt nach und nach den Bezug zur Wirklichkeit zugunsten einer erwünschten fiktionalen Persönlichkeit auf. Diese Selbstaufgabe ist die größte Gefahr nicht nur für einzelne Individuen sondern längerfristig für die Gattung an sich. Auch die KI ist für ihn eine ähnliche Gefahr, da sie – mit menschlicher Hilfe! – den menschlichen Geist zu ersetzen verspricht – oder droht.

Mit diesem fast schon tagespolitischen Schluss und einem abschließenden Appell, das „postfaktische Gespenst zu verjagen“, schafft Gabriel den Bogen von der erkenntnistheoretischen Diskussion am Eingang des Elfenbeinturms zu den drängenden – realen! – Problemen der Gegenwart einschließlich klarer Benennung der Gefahr und Vorschlägen zum Gegensteuern.

Das Buch ist im Suhrkamp-Verlag erschienen, umfasst 636 Seiten und kostet 32 Euro.

Frank Raudszus

No comments yet.

Schreibe einen Kommentar