Ljudmila Ulitzkaja: „Eine Seuche in der Stadt“

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In der Stadt Saratow südöstlich von Moskau an der Wolga forscht im Jahre 1939 der Virologe Rudolf Iwanowitsch Mayer in seiner Isolierkammer an Pestviren. Das langgestreckte Gebäude ist völlig eingeschneit und trübes Licht brennt hinter den Scheiben, als plötzlich mitten in der Nacht das Telefon klingelt. Eine alte Tartarin in der Pförtnerbude hebt unwirsch ab: Mayer wird aus Moskau verlangt. Der Forscher ist noch in voller Isolierkleidung. Kurz verrutscht die Maske, weil sich die Kinnhalterung gelöst hat. er eilt ans Telefon, wo er erfährt, dass er sofort nach Moskau kommen solle, um Bericht über seine Arbeiten zu erstatten.

Also macht er sich am nächsten Morgen auf den Weg nach Moskau. Sechs Leute sind bei ihm im Abteil, unter anderen ein junger Mann mit zwei Gänsen, die er „frostbeständig“ aufgezogen hat, was ihm aber niemand glaubt. Deshalb soll auch er in Moskau an der Akademie Bericht erstatten. Die Leute im Abteil kommen untereinander ins Gespräch, und eine Frau verteilt sogar belegte Brote. Als Mayer beim Zugpersonal noch einen Tee wünscht, wird er mit der Bemerkung abgekanzelt, er habe ja bereits einen gehabt. Es gebe erst am nächsten Morgen wieder Tee. Indes kämpft sich der Zug ständig durch Schneewehen.

Im Hotel Moskwa bezieht der Forscher sein Zimmer, als ihm plötzlich übel wird. Der sofort gerufene Arzt schickt ihn umgehend ins Krankenhaus mit Verdacht auf Lungenpest. Das Krankenhaus wird abgeriegelt und es beginnt eine fieberhafte Suche nach allen Kontaktpersonen Mayers, die alle infiziert sein und das Virus weitertragen könnten. Der sowjetische Geheimdienst NKWD wird eingeschaltet und meldet die schlechte Nachricht umgehend nach ganz oben an den Genossen Stalin.

Das Subtile an Ljudmila Ulitzkajas Buch ist die Schilderung der bedrohlichen Situation einer Pest-Epidemie in Zeiten der politischen Pest. Ulitzkaja hat in ihrer Jugend alte Zeitungsausschnitte über diese reale Situation gesammelt und jetzt, über ein halbes Jahrhundert später, zu einem Buch verarbeitet. Der Bericht – vom Verlag bewusst nicht als Roman übertitelt – ist so spannend erzählt, das man die 102 Seiten in einem Rutsch durchlesen muss. Abgesehen von der eigentlichen Handlung, deren Brisanz perfekt in die Corona-Zeit passt, erfährt der Leser viel über persönliche Schicksale der Menschen in der damaligen Sowjetunion, aber auch über die weit reichende Überwachung der Bürger. In diesem Fall zeigte die Überwachung allerdings positive Folgen, denn sie half, die drohende Katastrophe abzuwenden.

Das Buch ist im Hanser-Verlag erschienen, umfasst 102 Seiten und kostet 16 Euro.

Barbara Raudszus

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