Wolfgang Wissler: „Kolumbus, der entsorgte Entdecker“

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Die Einordnung dieses Buches ist etwas schwierig, wie bei allen Büchern über historische Personen. Doch Wissler versucht weder, ein – wie auch immer – authentisches, dokumentarisches Bild des Seefahrers zu erstellen, noch lässt er seiner Phantasie freien Lauf, um sich seinen eigenen Kolumbus zu konstruieren. Er beschreitet eher den schmalen Grat zwischen beiden Ansätzen. Weitgehend den bekannten Fakten folgend, kleidet er Kolumbus´ persönliche Geschichte mit einer eigenen Perspektive aus, die durchaus schlüssig, wenn auch nicht zwingend ist. Man könnte es durchaus einen „Roman“ nennen, wären da nicht die historischen Personen. Konsequenterweise fehlt denn auch eine Klassifizierung dieses Buches auf dem Buchdeckel.

Wissler lässt das Buch im Jahre 1504 beginnen, zwölf Jahre nachdem Kolumbus die von ihm „westindisch“ genannten Inseln der Bahama-Kette entdeckt hat. In seinen Folgereisen hat er seine Versprechungen über große Mengen Goldes für den spanischen Hof nicht erfüllen können, ist mehr oder weniger in Ungnade gefallen und schließlich mit seinen vom Holzwurm zerfressenen Schiffen auf Jamaika gestrandet. Der Gouverneur des nur hundert Seemeilen entfernten Hispaniola – heute die Dominikanische Republik – denkt nicht daran, ihn zu retten, in der Hoffnung, der schiffbrüchige Kolumbus und seine Mannschaft würden von Eingeborenen umgebracht werden oder schlicht verhungern. Dann wäre das Problem Kolumbus für alle elegant gelöst.

Doch Kolumbus hat sich mit den Eingeborenen arrangiert, erhält von diesen sogar eine Zeitlang Essen und Trinken, bis die ungehobelte Siegermentalität seiner Mannschaft, die auch seine ist, die Inselbevölkerung verärgert, so dass diese sich schon mit dem Gedanken der Eliminierung trägt. Doch Kolumbus muss seinen Männern Optimismus vorspielen, um einen Rest von Disziplin zu wahren und überhaupt eine Chance auf Rettung zu wahren.

Im Gegensatz zu den bekannten Fakten hat bereits der junge Kolumbus vor Jahrzehnten diese Insel mit zwei Freunden per Schiff entdeckt, was ihm aber keiner glauben wollte. Das ist übrigens eine höchst unwahrscheinliche Annahme, da man mit dem besagten kleinen Boot damals keine Fahrt ins Ungewisse über den Atlantik und zurück hätte durchführen können. Wissler lässt die beiden Freunde zu den Eingeborenen „überlaufen“, weil sie deren natürlicher und allen Brutalitäten abgeneigter Lebensstil fasziniert. Hier verfällt Wissler ein wenig dem naiven Glauben an eine „grundgütige“ Gesellschaft à la Rousseau. Was man von den mittelamerikanischen Gesellschaften der Inkas und Azteken weiß, lässt nicht unbedingt auf eine friedlich-harmonische Lebensart schließen. Aber als Ausgangspunkt einer romanhaften Handlung mag diese Einschätzung akzeptabel sein.

Während die Situation für Kolumbus immer prekärer wird, auch weil ein Teil seiner Mannschaft gemeutert hat und sich in Desperado-Manier durch die Dörfer der Eingeborenen meuchelt, stößt er plötzlich auf seinen alten Freund und Mitsegler der ersten Stunde, der nach einem Unfall vollständig gelähmt ist und von den Eingeborenen aufopferungsvoll gepflegt wird. Auch diese extrem soziale Haltung einem einzelnen Fremden gegenüber scheint ein wenig aufgesetzt und soll offensichtlich den Kontrast zwischen der „guten“ Urbevölkerung und den „bösen“ Usurpatoren schärfen. Die brutale Räubermentalität der spanischen Eroberer ist zwar unbestritten, aber um diese zu betonen, muss man den Edelmut der Eingeborenen nicht unbedingt überstilisieren.

Die beiden treffen sich in einem für die Schiffbrüchigen äußerst kritischen Moment, und dabei treffen die Grundanschauungen beider Seiten direkt aufeinander. Hier der selbstverständliche Besitzanspruch der Eroberer einschließlich der Abwertung der Ureinwohner, dort die berechtigte Anklage gegen die Europäer und das Loblied auf das einfache, „gute“ Leben der Insulaner. Dieser Disput besteht nur aus knapp drei Seiten und enthält die üblichen Argumente. Wenn diese Szene der Mittelpunkt des Buches sein soll, dann ist der Dialog etwas zu schematisch und abgespielt. Man hätte daraus etwas machen können wie Diderots „Rameaus Neffe“, indem man beide Positionen bis auf die historischen, menschlichen und philosophische Grundprinzipien zurückführt, doch darauf hat Wissler zugunsten einer vordergründigen Moralisierung verzichtet. Dabei geht es hier nicht um eine Apologie der spanischen Conquistadoren, sondern um grundsätzliche Elemente und Konsequenzen der (menschlichen) Evolution bis hin zu Sinn und Perversion des Religiösen.

So belässt es Wissler bei der Vorstellung eines gescheiterten Kolumbus und seiner so neidischen wie intriganten Widersacher. Er selbst gibt zu, Amerigo Vespucci, den Namensgeber des neuen Kontinents, etwas zu intrigant und verschlagen dargestellt zu haben, nimmt dabei aber – nicht ganz zu Unrecht – eine gewisse literarische Freiheit in Anspruch. Schließlich gibt es keine gerichtsfesten psychologischen Gutachten über Vespucchi.

So anregend, wie dieses Buch wegen der anderen Perspektive auf einen „Helden“ der Weltgeschichte beginnt, so verwässert endet es, fast so wie der Protagonist selbst.

Das Buch ist im Hirzel-Verlag erschienen, umfasst 190 Seiten und kostet 22 Euro.

Frank Raudszus

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