Markus Thiele: „Die Wahrheit der Dinge“

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Ein weitverbreiteter und durchaus verständlicher Irrtum besteht darin, bereits von irdischen Gerichten Gerechtigkeit zu verlangen, wobei das Verständnis von Gerechtigkeit subjektiv stets eindeutig ist. Die Wahrheit besteht jedoch darin, dass Gerichte nur Recht auf der Basis vorliegender Gesetze und unter Berücksichtigung aller Umstände eines gegebenen Sachverhalts sprechen können und dass die Urteile durchaus dem Gerechtigkeitsempfinden der Beteiligten widersprechen können.

Markus Thiele, selbst Jurist, handelt dieses Thema am Beispiel eines tief verunsicherten Richters ab. Ähnlich wie Ferdinand von Schirach stellt er das juristische Problem in den Mittelpunkt, doch im Gegensatz zu seinem Kollegen bearbeitet er es nicht in Gestalt eines didaktischen Diskurses um These und Antithese, sondern kleidet es in ein menschlich-psychologisches Gewand.

Hauptperson ist Frank Petersen, ein Richter um die fünfzig, der aus mehreren Gründen den Boden unter den Füßen zu verlieren droht. In den letzten Jahren sind mehrere seiner Urteile von höheren Instanzen revidiert worden, was für einen Richter stets ein Schlag ins Gesicht ist. Darüber hinaus hat er sich derart in seine Arbeit vergraben und einen derart hohen Anspruch an seine Rolle als Richter gestellt, dass seine Ehe darunter zu kriseln begann. Da war dann ein Urteil ausgerechnet gegen den Vater der türkische Freundin seines Sohnes nur das auslösenden Ereignis dafür, dass seine Frau samt dem Sohn ausgezogen ist. Der Hauptgrund besteht jedoch darin, dass eine Frau aus dem Gefängnis entlassen wird, die vor etwa fünf Jahren den Mörder ihres Sohnes am letzten Verhandlungstag im Gerichtssaal vor Petersens Augen erschossen hat. Petersen hat nie verstanden, warum sie das gerade am letzten Tag tat, und vermutet im Stillen, dass dies auf seine Verhandlungsführung zurückzuführen ist. Schon mit diesem Prozess hat er sich im Freundeskreis und bei seiner Frau starke Kritik eingehandelt, wobei im Buch nicht klar wird, ob er auch die Frau zu der Gefängnisstrafe verurteilt hat oder ob es bei der Kritik nur um seine Verhandlungsführung gegen den Mörder ihres Sohnes ging.

Thiele hat diesen Fall an den realen Fall Bachmaier angelehnt, ihn jedoch für seine eigenen literarischen Zwecke abgewandelt, wohl auch, um eventuelle Klagen wegen Verletzung des Persönlichkeitsrechts zu vermeiden. In zwei getrennten Handlungssträngen erzählt er einerseits die gegenwärtige – 2015 – Geschichte des gegen eine Lebenskrise kämpfenden Richters und andererseits das Drama der Frau, die bei ihm Corinna Meier heißt. Als junge Studentin der Medizin lernte Corinna einen afrikanischen Doktoranden kennen und wurde im Jahr 1990 schwanger. Als der Doktorand für ein Praxisjahr in die neuen Bundesländer zog, wurde er Opfer eines rassistischen Anschlags und starb noch vor der Geburt seines Sohnes. Das Gericht verurteilte die Haupttäter wegen Körperverletzung mit Todesfolge zu einer lächerlichen Strafe. Damaliger Richter war ein Studienfreund Petersens, der ihm fünfundzwanzig Jahre später beichtet, er habe aus reiner Angst so entschieden. Dadurch war Corinnas Glaube an die Gerechtigkeit bereits schwer erschüttert.

Petersen beschließt, Corinna Meier bei der Entlassung aus dem Gefängnis abzufangen und sich mit ihr über ihre damaligen Beweggründe zu unterhalten. Das gestaltet sich anfangs ziemlich schwierig, weil sie ihn von vornherein als einen Gegner, wenn nicht Feind, betrachtet. Doch dank seiner Ehrlichkeit und des ernsthaften Eingeständnisses seiner eigenen existenziellen Verunsicherung gewinnt er langsam ihr Vertrauen. Er beginnt, sie zu verstehen, ohne deshalb sich selber schuldig zu sprechen. Er hat stets versucht, sämtliche Aspekte eines Falles zu berücksichtigen, auch wenn dieser in der Öffentlichkeit noch so klar erschien. Das betrachtet er als seine ureigenste Aufgabe, und sie gilt es auch gegen emotionale Deutungen aller Art zu erfüllen. Dass er dabei Freundschaften und sogar seine Ehe gefährdet, erkennt er als ein grundlegendes Risiko, das dem Beruf anhaftet.

Für den so anspruchsvollen wie selbstkritischen Petersen ist das Problem so gravierend, dass er wegen eigener Unzulänglichkeit ernsthaft an die Aufgabe seines Berufes denkt, obwohl seine Vorgesetzten das ganz anders sehen. Ausgerechnet das kritische Treffen mit der Gerichtssaal-Mörderin führt ihn zurück in die Wirklichkeit. Thiele lässt dann den Roman weder pathetisch-kitschig mit Kündigung und Tätigkeit als armer Anwalt der Unterdrückten noch affirmativ-staatstragend mit einem triumphalen Sieg des Protagonisten über seine minder gebildeten Kritiker enden, sondern als ein Fügen in das zu Akzeptierende weil Unvermeidliche, einschließlich Reparatur der privaten Verhältnisse

Ohne dieses unlösbare Dilemma als beinahe schon platte Erkenntnis vor dem Leser als Fazit oder gar „Lehre“ auszubreiten, schafft Thiele es, das Grundproblem aller Recht sprechenden Institutionen auf den Punkt zu bringen: die Erkenntnis, dass „Gerechtigkeit“ im wahrsten Sinne des Wortes eine Utopie ist, an deren Unrealisierbarkeit der Mensch verzweifeln kann, sowohl als „Opfer“ wie auch als Richter..

Angenehm fällt auf, dass Thiele keine Kompromisse an den Publikumsgeschmack eingeht. Situationen, die sich geradezu für erotische Intermezzi anbieten, lässt er in dieser Hinsicht ungenutzt und beschränkt sich konsequent auf das zentrale Thema, ohne deswegen in kopfgesteuerte Lebensfremdheit zu verfallen. Sein Stil ist kurz, knapp, bisweilen lakonisch, ohne deswegen trocken zu wirken. Die innere Befindlichkeit der Hauptpersonen kommt deutlich zum Ausdruck. Das durchgehende Präsens, auch in den Rückblenden, sorgt für Tempo und ausgesprochene Dichte. Man legt dieses Buch erst nach der letzten Seite aus der Hand.

Es ist im Verlag Benevento erschienen, umfasst 240 Seiten und kostet 22 Euro.

Frank Raudszus

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