Wolfgang Kaes: „Das Lemming-Projekt“

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In diesem „Thriller“ verarbeitet der Autor zwei Themenkreise, die auf den ersten Augenblick nichts gemeinsam haben: einerseits die zunehmenden Hass-Inhalte des Internet und ihre Löschung, und andererseits die reaktionäre katholische Kirche mit ihrer repressiven und ausbeuterischen Haltung gegenüber Gläubigen und – vor allem – Kindern. Die Handlung verlegt er nach Südspanien, weil sich dort der Katholizismus in seiner für Kaes typischen Art wohl noch am „reinsten“ erhalten hat.

Der nicht mehr ganz junge Alejandro, Absolvent in Kunstgeschichte, findet nur einen – schlecht bezahlten – Job in einer (US-)Firma, die inakzeptable Inhalte sozusagen im Akkord löscht. Für jeden ihm vorgelegten Inhalt – Text, Foto, Video – hat Alejandro nur wenige Sekunden Zeit, muss sich aber alles ansehen, bevor er seine Entscheidung trifft. Nach einer achtstündigen Schicht ist er vor allem psychisch ausgelaugt. Sein Chef hat ihn schon wegen seiner zu hohen Löschrate und wegen seiner nachlassenden Effizienz ermahnt. Aber wirkliche Irritationen kommen erst auf, als ihm Fotos aus der eigenen familiären Vergangenheit vorgelegt werden. Als sich eine junge Kollegin, die Ähnliches erlebt, deshalb von einer Brücke stürzt, kommen die Dinge ins Rollen.

Alejandro erkennt auf dem besagten Foto seinen älteren Bruder, den er nie bewusst kennengelernt hat, weil er als Achtjähriger wegen Renitenz in ein katholisches Besserungsheim geschickt wurde und nie von dort zurückkehrte. Alejandros Vater ließ seine Frau mit drei kleinen Kinder sitzen, wohl, als er erfuhr, dass der Älteste nicht von ihm war. Im Sinne der katholischen Problematik wollen wir hier verraten, dass ausgerechnet der lokale katholische Pfarrer die junge Frau geschwängert und ihr schnell einen Mann (und Kindsvater) besorgt hatte, nur, um sich anschließend auf bigotte Art über die „gefallenen“ jungen Frauen aufzuregen.

Je mehr Alejandro und seine Schwester, ihres Zeichens Journalistin, dem Schicksal des Bruders im Heim nachgehen, desto mehr schälen sich die unmenschlichen, durch physische Gewalt und sexuellen Missbrauch der Heimkinder geprägten Zustände in den Heimen der katholischen Kirche heraus. Als dann zusätzlich sowohl im Internet als auch im Alltag immer mehr Anzeichen einer reaktionären politischen Bewegung auftreten, gehen die beiden Geschwister auch diesem Verdacht nach. Aus der Sicht des allwissenden Autors erhalten die Leser entsprechenden Einblick in die politischen Ansichten hoher Würdenträger der Kirche, des Militärs und der Guardia Civil, der Polizei. Demnach braut sich ein Putsch zusammen, der die Welt von General Franco wiedererwecken soll. Jetzt sind die journalistischen Fähigkeiten und Kontakte der Schwester und beider Mut gefragt. Ihre Recherchen ergeben dabei, dass dieselbe Firma, für die Alejandro miese Inhalte des Netzes bewertet (und löscht), auch für die Putschisten und für viel Geld im Sinne eines massiven „micro targetings“ a la Cambridge Analytica tätig ist. Zum Schluss zeigt sich bei einem klassischen „Showdown“, wie der geheimnisvolle Bruder der Geschwister in die Ereignisse verwoben ist. Mehr wollen wir hier nicht verraten, denn schließlich handelt es sich ja um einen „Thriller“.

Doch seien die literarischen Schwächen dieses Buches nicht verschwiegen. Die Personen werden im Sinne einer einfachen Identifikation der Leser früh als „gut“ oder „böse“ charakterisiert. Erstere sind durchweg liebenswerte, tapfere Menschen mit einer soliden Ethik, und so kommt es unter ihnen sogar zu Liebesbeziehungen; letztere sind arrogante, machtgierige und schmierige Gesellen, denen man lieber nicht begegnen will. Hier ist die Welt sauber getrennt. Außerdem wird Alejandro zumindest implizit als attraktiver Mann dargestellt, und seine Schwester explizit als „sehr schöne“ Frau. Da hat wohl ein verkaufsorientierter Lektor mitgewirkt.

Störend wirkt die sprachliche Konsistenz, die sich in dem stark auf Dialoge setzenden Roman als kontraproduktiv erweist. Alle Protagonisten sprechen die Sprache eines engagierten Journalisten mit dreißig Jahren Berufserfahrung, ungeachtet ihrer Herkunft und Bildung. Ein einfacher Hafenarbeiter doziert über die „Gentrifizierung“ des Hafenviertels von Malaga in wohlgeformten Sätzen und unter Gebrauch eben dieses Wortes, und der alte Hausmeister des Kinderheims, der nie sein winziges Dorf verlassen hat, erzählt in ebenso druckreifen Sätzen, wie die kindlichen „Delinquenten“ für kleinste Vergehen bestraft wurden. So muten die meisten Dialoge, auch die der akademisch gebildeten Protagonisten, wie Proseminare über Kindesmissbrauch, Imternethass und Neofaschismus an. Die Gesinnung ist durchaus anerkennenswert, kommt der Qualität des Romans jedoch nicht immer zugute.

Das Buch ist im Rowohlt-Verlag erschienen, umfasst 428 Seiten und kostet 16 Euro.

Frank Raudszus

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