Alexander Bogner: „Die Epistemisierung des Politischen“

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Der drohende Klimawandel und die Corona-Pandemie zeigen seit einigen Jahren die Bedeutung der wissenschaftlichen Expertise und deren Einfluss auf die Politik. Alexander Bogner untersucht dieses Phänomen in etwas grundsätzlicherer Weise, aber auch entlang eben dieser beiden Beispiele. In sieben Kapiteln beschreibt er die verschiedenen Ausprägungen der problematischen Auswirkungen des Wissens – griechisch „Episteme“ – auf Gesellschaft und Politik.

Im ersten Kapitel kommt er von der „Feier“ des Wissens, das uns seit der Aufklärung tatsächlich große Fortschritte beschieden hat, schnell auf den aktuellen Protest zu sprechen. Das Wissen ist in allen Bereichen derart komplex geworden, dass es die Menschen schlicht überfordert. Dadurch entsteht seiner Meinung nach das Gefühl der „Kolonisierung“ durch die Wissenschaftselite. Entweder man nimmt alles als höheres Wissen entgegen und akzeptiert die „alternativlosen“ Einschränkungen des täglichen Lebens – Klima, Corona – oder man bestreitet die Behauptungen der Wissenschaftler. Das geschieht nach Bogner auf zwei Wegen: Ignoranz oder Gegenexpertise. Erstere ist der irrationale Aufschrei des verständnislosen (unterdrückten) Individuums, letztere die vermeintlich clevere Strategie besser ausgebildeter Protestler, die wissen, dass man stets jemanden findet, der – mit einem Doktortitel – das Gegenteil behauptet und mit meist dramatischen Einzelfällen belegt. Während die seriöse Wissenschaft alle empirischen Erkenntnisse mit – unspektakulären! – statistischen Ergebnissen aus einer großen Zahl von Fällen unterlegt, übt der gegenteilige Einzelfall – rettend oder tragisch – stets eine wesentlich größere emotionale Wirkung aus.

Man hat deshalb des Öfteren erwogen, die Stimmrechte der Wahlbevölkerung nach Wissensstufen zu ordnen, doch blieben diese Versuche wegen ihrer antidemokratischen Sprengkraft Gedankenspiele. Bogner sieht aus eben diesem Grund in der kämpferischen Ignoranz breiter Kreise eine echte Gefahr für die Demokratie. Er verweist deshalb auf existierende Appelle aus dem Wissenschaftsbereich an die Politik, nicht im Fahrwasser der Experten (deren) Entscheidungen zu treffen, sondern den Primat der Politik wieder in den Vordergrund zu stellen und die Werte anstelle der Daten wieder zur Diskussion zu stellen. Wissenschaft erklärt nur den Charakter der Dinge, kann und soll aber keine Entscheidungen erzwingen. Die Politik muss der Bevölkerung die leitenden Werte erklären und die Entscheidungen aufgrund eben dieser Werte UND der wissenschaftlichen Erkenntnisse fällen.

Unter dem Oberbegriff „Epistemischer Populismus“ fasst Bogner die Forderung verschiedener (soziologischer) Wissenschaftler auf, auch die Wissenschaft selber als nur einen gleichberechtigten Mitspieler im demokratischen Prozess zu betrachten und ihr keine Sonderrolle einzuräumen. Die rationale Wissenschaft ist diesen Stimmen zufolge auch nur eine Ideologie wie alle anderen und darf kein ausschließliches Recht auf Wahrheit einfordern. Selbst den Corona- oder KIimawandlerleugnern gestehen wissenschaftliche Populisten wie Paul Feyerabend das selbe Recht auf Diskussion ihrer Ansichten ein wie den entsprechenden (Natur-)Wissenschaftlern. Für Bogner würde eine solche Haltung letztlich zu einem wissenschaftlichen Identitätskult führen, der zu Tribalismus und zu streng getrennten Parallelwelten führen würde, da keine gemeinsame Basis für ein Weltverständnis mehr existieren würde. Im besten Falle wäre gegenseitige Ignoranz, im schlechtesten erbitterte gegenseitige Bekämpfung die Folge.

In diesem Zusammenhang diskutiert Bogner auch die Rolle der Intellektuellen, deren gesellschaftlicher Niedergang durch eine solche Entwicklung noch beschleunigt würde. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war der Intellektuelle ein distanzierter Bobachter, der die Schwächen der einzelnen Ideologien herausarbeitete und sie kritisierte. In einer Welt identitärer Weltanschauungen wird intellektuelle Distanz laut Bogner nicht mehr geschätzt sondern geradezu als Verrat denunziert. Ein klares Freund-Feind-Schema regiert diese Welt, wie man es bereits bei den identitären Ideologien in anderen Bereichen feststellen kann.

Mit „Aufstand der Ignoranten“ übertitelt Bogner seine Kritik der flächendeckenden Proteste gegen wissenschaftlich erwiesene(!) Fehlentwicklungen wie Klimakrise oder Corona-Pandemie, die hier nur als Beispiel dienen sollen. Die „Gelbwesten“ in Frankreich haben es vorgemacht, die Kapitol-Stürmer vor der Wahl des US-Präsidenten haben diesen Trend spektakulär fortgesetzt, und auch in Deutschland haben Leugner verschiedener Couleur versucht, den Reichstag zu erstürmen. Alle diese Leugner-Bewegungen lehnen nicht nur die wissenschaftlichen Erkenntnisse ab, sondern die als arrogante Wissenselite beschimpfte Wissenschaft selbst. Es gelten nicht mehr die rationale Beurteilung sowie das mühsam gewonnene und vielfach belegte Wissen, sondern nur noch die individuelle Emotion und die Frustration über das eigene Unverständnis einer zunehmend komplexen Welt. Die Leugner suchen nach einfachen Gründen, nach klaren Schemata von „gut“ und „böse“ und deutlichen Feindbildern, und dafür benötigen sie keine wissenschaftliche Expertise.

Zum Abschluss verweist Bogner dann doch noch auf kläglich gescheiterte Versuche der Leugner in den USA, die Wissenschaft als heuchlerisch und unfähig zu entlarven. Doch die Tatsache, dass die etablierte Wissenschaft diesen ersten Sturm souverän überstanden hat, ist keine Garantie für ein Fortbestehen ihrer Stellung. Die durchaus vorhandene „Epistemokratie“, das heißt: die indirekte Machtausübung der Wissenschaft auf die Politik, muss von der Wissenschaft selbst, vor allem aber auch von der Politik durch vollständige Transparenz und durch eine erneuerte Eigenständigkeit der Politik ersetzt werden. Nur wenn die Politik sich wieder auf Werte besinnt und diese nachvollziehbar in ihre Entscheidungen einfließen lässt, lässt sich auch die verunsicherte Bevölkerung wieder zurückgewinnen. Dass dabei wissenschaftliche Erkenntnisse berücksichtigt werden müssen, versteht sich von selbst.

Dieser gut hundert Seiten umfassende Essay liefert zu diesem Thema eine klare, gut gegliederte Übersicht und bringt die Probleme auf den Punkt. Das Buch ist im Reclam-Verlag erschienen, umfasst 132 Seiten und kostet 6 Euro.

Frank Raudszus

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