Louise Erdrich: „Der Nachtwächter“

Print Friendly, PDF & Email

Der 2020 in den USA erschienene Roman „Der Nachtwächter“ von Louise Erdrich ist jetzt auch in der deutschen Übersetzung im Aufbau Verlag herausgegeben worden.

Louise Erdrich gibt in ihrem Roman einen Einblick in den Kampf eines indianischen Stammes gegen die von Washington initiierte Terminationspolitik im Jahre 1953, die darauf abzielte, den indianischen Stämmen ihre Reservate zu nehmen und sie in das städtische Stadtleben zu „integrieren“. Im Klartext hätte das die Vernichtung indianischer Kultur und indianischen Lebens bedeutet.

Louise Erdrich, Jahrgang 1954, hat mütterlicherseits indianischen Familienhintergrund und ist in einem Reservat aufgewachsen. Sie hat Dokumente von der Anhörung in Washington sowie Briefe und Aufzeichnungen des Großvaters studiert und zahlreiche Gespräche mit älteren Mitgliedern der Familie und des Stammes geführt. So hat sie sich einen  Überblick über die Ereignisse in den Jahren 1953 /54 verschafft.

Daraus ist ein Roman entstanden, der uns ins Innere der indianischen Lebenswelt, ihrer Traditionen und kulturellen Wurzeln führt, gleichzeitig aber auch die Gratwanderung ahnen lässt, die das Leben im Reservat zwischen Tradition und moderner Arbeitswelt bedeutet.

Der Roman kreist um die Figur Thomas Wazhashk, der als Stammesführer den Widerstand gegen das von Washington angestrebte Gesetz führt. Er bewirtschaftet mit seiner Familie das Land, das ihm im Reservat zusteht. Zum Überleben braucht er darüber hinaus die Arbeit als Wachmann in der Lagersteinfabrik, die Arbeitgeber für viele der Indianer im Reservat ist.

Wie ein Kaleidoskop entwickelt Louise Erdrich ein Bild der Dorfgemeinschaft, die als Solidargemeinschaft alle Aufgaben wie auch persönliche Krisen und Schicksalsschläge gemeinsam durchsteht.

So erfahren wir, wie das Zusammenleben generationsübergreifend organisiert ist, getragen von gegenseitiger Achtung, insbesondere auch den Alten gegenüber, deren Erfahrung und Wissen von den Jüngeren geschätzt werden. Junge wie Alte halten fest an en Ritualen einer Naturmystik, die davon ausgeht, dass die Toten als Geister weiterhin um die Lebenden sind. Entsprechend sind auch die Begräbnisrituale, die dem Toten Aufnahme in diesen Kreis ermöglichen sollen.

Das alles steht nicht in Widerspruch zu moderner Bildung, die gerade die junge Generation erhalten hat. Als Kinder sind viele von ihnen in Internate geschickt worden, wohl um sie umzuerziehen. Das aber glückt für diese Menschen nicht. Die Naturreligion wohnt weiterhin in den Menschen, auch wenn viele offiziell katholisch sind.

Das Nebeneinander von Indianern und Weißen im Reservat ist unproblematisch. So ist etwa der Mathematiklehrer und Boxtrainer Barnes ein angesehenes Mitglied der Dorfgemeinschaft, auch wenn er mit seinem „Strohkopf“ herausfällt.

Eine besondere Rolle in dieser Gemeinschaft hat Patrice, eine Nichte von Thomas, die in der Lagersteinfabrik arbeitet und ebenfalls in der Landwirtschaft der Mutter Zhanaat mitmacht. Sie gibt das Bild der starken Frau, die mit ihrer Arbeit die Familie ernährt, die nach der Arbeit Holz hackt wie ein Mann, aber auch derjenigen, die sich nach mehr sehnt, nach der Möglichkeit zu studieren. Dafür spart sie. In der Reservatsschule war sie Klassenbeste, im Englischen ist sie ebenso flüssig wie in der Stammessprache. Früh erkennt sie, wie viele jung verheiratete Frauen sich aufreiben in der Schinderei für die Familie. So will sie nicht enden. Aber die Solidarität mit der Familie geht vor. Deshalb macht sie sich auf die Suche nach ihrer Schwester Vera, die in Minneapolis verschollen ist.

Patrices Erlebnisse und bitteren Erfahrungen in Minneapolis lassen sie erkennen, in welcher geborgenen, wenn auch armen und begrenzten Welt sie in ihrem Dorf lebt. Die Stadt entpuppt sich als ein gefährlicher Ort, in dem die Unerfahrene unterzugehen droht. Nur Patrices physische und psychische Stärke wappnet sie gegen die Bedrohung und lässt sie entkommen.

Mit der Figur Patrice erleben wir auch den Bereich der Liebe und der Rolle der sexuellen Beziehungen. Das Leben in der Stammesgemeinschaft ist in dieser Hinsicht ohne moralische Einengung. Dass ein junges Mädchen endlich sexuelle Erfahrungen sammeln will, ist kein Tabu, sondern durchaus normal. Die Mädels tauschen ganz offen ihre Erfahrungen aus und geben der Unerfahrenen Tipps. Patrice will alles wissen, geht aber dennoch ihren eigenen Weg. Das bedeutet, dass sie sich auf keine voreilige Bindung einlässt.

Der Stammesführer Thomas bereitet sich akribisch mithilfe der Dorfbewohner auf die Anhörung in Washington vor. Seine Nichte Millie, die in Minneapolis an ihrer Doktorarbeit schreibt, hilft mit wichtigen Informationen.  Die Anhörung verläuft erfolgreich, der Stamm ist der einzige, der von der „Terminierung“ ausgenommen wird.

Die indianische Gesellschaft im Dorf macht damit die Erfahrung, dass Solidarität und Protest sich lohnen können.

Das hat auch Auswirkungen auf die Arbeit in der Fabrik, wo Patrice mit anderen eine Solidaritätsgemeinschaft gegen ausbeuterische Arbeitsbedingungen wagt und tatsächlich Änderungen bewirken kann.

Dies ist allerdings nur die positive Seite des Lebens im Dorf.

Louise Erdrich schildert ebenso die verhängnisvollen Seiten dieses Balanceakts zwischen Tradition und Moderne, der von einer profitgierigen weißen Mehrheitsgesellschaft ständig bedroht ist. Investoren sind scharf auf das Land der Reservate, das die Indianer angeblich nicht angemessen bewirtschaften. Die Politik versucht, die Verträge mit den Stämmen aufzulösen und die Indianer mit scheinbar guten Angeboten zu verführen, ihr Land billig zu verkaufen. Wer jedoch von seinen traditionellen Lebensformen abgeschnitten ist, verliert häufig die Orientierung im Leben. Alkoholismus ist ein verbreitetes Problem, Patrices Vater geht daran zugrunde.

Auch die guten Jobs sind für Indianer kaum zu erringen. So kämpft Patrice um die Beförderung, muss aber mit ansehen, dass die weiße Betty ihr vorgezogen wird. Armut und Abhängigkeit von Sachspenden prägen das Leben vieler Dorfbewohner.

Dennoch gibt es Zukunftshoffnung. Patrices Schwester Vera wird aus einer Situation weiblicher Versklavung gerettet und von ihrer Familie im Dorf mit offenen Armen aufgenommen. Auch Liebe und Zukunftsplanung sind ihr wieder möglich.

Die Figur des Thomas Wazhashk ist dem Großvater der Autorin nachempfunden, wenn auch fiktionalisiert. Alle anderen Figuren der Handlung – bis auf den Senator Watkins, der das Terminierungs-Gesetz betreibt – sind erfunden, wohl aber entsprechend den Erzählungen aus der realen Dorfgemeinschaft gestaltet.

Die Darstellungsweise macht es den Leserinnen nicht immer leicht, die Figuren und Handlungszusammenhänge richtig zuzuordnen. Das liegt an der Abfolge zum Teil sehr kurzer Kapitel, die jeweils eine andere Figur oder einen anderen Handlungsstrang aufgreifen. Als Leserin muss man sehr aufmerksam sein, weil die verschiedenen Handlungsstränge häufig weit auseinander liegen und die Erzählperspektive jeweils mit den Figuren wechselt.

Die Charakterisierung der Figuren erfolgt überwiegend durch Dialoge. Bei den Hauptfiguren Thomas und Patrice gibt uns die Autorin jedoch auch Einblicke in innere Prozesse, so dass wir über deren Hoffnungen, Zweifel und Zukunftsperspektiven mehr erfahren. Beide Figuren machen eine Entwicklung durch, die sie zu einem bewussteren Blick auf sich selbst und auf die Situation des Stammeslebens im Umfeld der modernen Welt führt. Bei Thomas ist es die Erfahrung seines öffentlichen Auftritts bei der Anhörung, bei Patrice sind es sowohl die Erfahrungen in der Stadt als auch ihre Erfahrungen in der Beziehung zu Männern. Sie löst sich aus dem magischen Denken der indianischen Tradition mit dem deutlichen Ziel, mehr Wissen und Kompetenzen zu erlangen, ohne aber das Leben in der Stammesgemeinschaft grundsätzlich in Frage zu stellen.

Dahinter steht offenbar die Hoffnung der Autorin, dass sich indianische Identität und Modernität versöhnen lassen. Damit verbunden ist auch der Appell an die indianische Community, selbst aktiv zu werden, gegen Unrecht anzugehen und die eigenen Rechte und Ansprüche durchzusetzen.

Insgesamt lässt uns die Autorin eintauchen in die uns weitgehend unbekannte indianische Lebenswelt, die in dieser Spannung zwischen Tradition und Moderne steht. Sie räumt gründlich auf mit einer falschen Indianer-Romantik, wie sie etwa in Western-Filmen vermittelt wurde. Damit hilft sie auch den Leserinnen und Lesern, Klischees zu überwinden und sich mit der politischen und gesellschaftlichen Realität indianischen Lebens im Amerika der Gegenwart auseinanderzusetzen.

Ein unbedingt lesenswertes Buch!

Das Buch ist im Aufbau Verlag erschienen, hat 496 Seiten und kostet 24 Euro.

Elke Trost

No comments yet.

Schreibe einen Kommentar