Michel Houellebecq: „Vernichten“

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Der neue Roman „Vernichten“ von Michel Houellebecq ist eine Überraschung. Anders als in den bisherigen Romanen ist die Hauptfigur Paul Raison nicht ein zynischer Opportunist oder gar Nihilist, vielmehr ein ganz normaler Franzose der gebildeten Mittelschicht. Beruflich ist er durchaus erfolgreich, aber nicht überragend. Er ist verheiratet, aber nicht glücklich, wie viele andere auch. Dennoch steht diese Figur im Mittelpunkt eines aufregenden Romans, dessen Handlung sich über den Zeitraum von November 2026 bis in den Herbst 2027 erstreckt. Um diese Hauptfigur herum zeichnet Houellebecq ein Bild des politischen und gesellschaftlichen Frankreichs einerseits und der damit verquickten individuellen Lebensgeschichten der Mitglieder von Pauls Familie.

Gleichsam in konzentrischen Kreisen bewegen sich die großen Themen unserer Zeit um die Hauptfigur: Die Bedrohung der Demokratie und der modernen Zivilisation durch anonyme Attentäter, die sich ausgeklügelter digitaler Technologien bedienen; die zunehmende Bedeutung spiritueller, rückwärtsgewandter und anti-aufklärerischer Bewegungen; der Zustand der Demokratie und die Rolle der Macht; die Bedeutung von Familie und Ehe; der Umgang mit Alter, Krankheit und Tod; und schließlich die Bedeutung der Liebe als wichtigstes Bindeglied für die Menschen.

Daraus entsteht ein Roman, der sich streckenweise wie ein Kriminalroman liest, gleichzeitig aber auch ein Familienroman ist.

Paul Raison arbeitet als persönlicher Assistent des Finanzministers Bruno Juge der herrschenden neo-liberalen Regierung, die sich für die anstehenden Präsidentschaftswahlen im Mai 2027 im Wahlkampf befindet. Der allseits sehr anerkannte Finanzminister spielt eine wichtige Rolle in der Strategie des herrschenden Präsidenten, dem es offenbar in erster Linie darum geht, seine eigenen Chancen für eine weitere Präsidentschaft in 5 Jahren zu vergrößern. Politisch geht es darum, einen Sieg des Rassemblement National von Marine Le Pen zu verhindern.

In den beginnenden Wahlkampf hinein platzen verstörende antidemokratische Videos im Internet, die mit unglaublicher Schnelligkeit verbreitet werden. Sie sind technisch so vollkommen, dass sie nur von Experten als nicht reale Bilder entziffert werden können. Damit verschwimmen die Grenzen zwischen Wahrheit und Fake, das Vertrauen in Bilder als vorgebliche Darstellung der Wirklichkeit wird damit einmal mehr nahezu unmöglich. Die Video-Botschaften sind mit seltsamen Symbolen versehen, deren Auflösung dem Geheimdienst (DGSI: Direction Générale de la Securité Intérieure) große Schwierigkeiten bereitet. Hinzu kommen Anschläge auf Containerschiffe und eine Samenbank, vor denen jedoch rechtzeitig gewarnt wird, so dass es keine Verletzten oder Tote gibt. Erst ein 4. Anschlag auf ein Boot mit Migranten, bei dem es 500 Tote gibt, schreckt die Regierung auf.

Ein Zusammenhang zwischen den Anschlägen ist zunächst nicht erkennbar. Es bedarf der kriminalistischen Fähigkeiten der Geheimdienstmitarbeiter, die Zusammenhänge und die gleichzeitig damit im Internet verbreitete Symbolik zu entschlüsseln. Wie in einem Krimi geht es auf die Suche nach den Tätern: Sind sie im extrem rechten oder im extrem linken Lager zu suchen? Oder stecken dahinter esoterische Bewegungen, die die gesamte moderne Zivilisation vernichten wollen? Houellebecq führt uns mit einem jungen Nerd in die Welt der verschiedensten, zum Teil okkultistischen Bewegungen wie etwa den Primitivisten, die die Menschheit auf ein vorzeitliches Niveau zurückkatapultieren wollen. Dabei lernen wir als Leserinnen viel über die Verwendung satanistischer Symbole und über die Bedeutung von Pentagrammen in diesen Bewegungen.

Pauls Verquickung in diesen Krimi ist einmal durch seine Funktion im Stab des Finanzministers gegeben, aber wesentlich auch über seinen nach einem Schlaganfall vollständig gelähmten Vater. Als ehemaliger Geheimdienstagent hat der Vater offenbar recht weitgehende Vermutungen über diese Zusammenhänge entwickelt, über die er jedoch nicht mehr Auskunft geben kann. Seine Kommunikationsfähigkeit ist auf ein Augenzwinkern beschränkt.

Über den Vater wird auch der zweite wesentliche Handlungsstrang entwickelt, der der Familie. Paul und seine Geschwister Cécile und Aurélien treffen sich mit der Lebensgefährtin des Vaters auf dem Anwesen der Familie im Beaujolais, um über die weitere Betreuung des Vaters zu beraten.

In diesem Handlungsstrang werden wir Zeugen problematischer familiärer Beziehungen. Es geht  um das Verhältnis erwachsener Kinder zu den Eltern, um Geschwisterbeziehungen, insbesondere auch um eheliche Beziehungen. Durch die Erkrankung des Vaters werden die Begegnungen wieder häufiger, man spricht über sehr intime Dinge, über die lange geschwiegen wurde.

Paul ist die Figur, die beide Handlungsstränge verknüpft. Die grundsätzliche Verunsicherung im politisch-gesellschaftlichen Leben einerseits und im privaten Bereich andererseits reflektiert er im Nachdenken über die großen Themen. In allen Bereichen stößt er auf Vernichtungstendenzen.

Wie konkret ist die Gefahr der Vernichtung der bestehenden Zivilisation durch unbekannte Bewegungen? Lohnt es sich eigentlich, für unsere westliche Kultur noch einzustehen, oder sollte sie vielleicht in der Tat besser untergehen?

Was bedeutet das Machtstreben in einer Gesellschaft, auch wenn sie sich demokratisch nennt? Im Wahlkampf geht es darum, den Gegner möglichst zu vernichten, wenn das den eigenen Sieg bedeutet. Damit das gelingt, heuert man Strategieberaterinnen an, die die Außendarstellung perfektionieren. Um Inhalte und Sachfragen geht es dabei schon lange nicht mehr.

Und wie ist es um die ehelichen Beziehungen bestellt?  Auch hier gibt es Hass, der nur darauf abzielt, den Ehepartner zumindest gesellschaftlich und wirtschaftlich zu vernichten.

Schließlich ist es die existenzielle Bedrohung durch Krankheit und Tod, die die  endgültige Vernichtung des Individuums bedeutet. Sowohl Pauls Vater als auch der Vater seiner Frau Prudence sind durch ihre jeweiligen Krankheiten in ihrer gesellschaftlichen Existenz vernichtet. Das Schlimmste daran ist der Verlust der Kommunikationsfähigkeit.

Aber bei aller Bedrohung gibt es die Liebe, die auch auf dem reduziertesten Lebensniveau wie dem der beiden Väter noch Glück bedeuten kann, sei es durch die Lebensgefährtin oder eine zurückkehrende Tochter. Alle wichtigen Figuren erfahren noch einmal das Glück solcher Liebe. Sie ist es, die das Leben, auch wenn nur wenig Zeit bleibt, noch lebenswert macht.

Pauls Reflexionen sind nicht stringent, vielmehr sprunghaft, sich aus der jeweiligen konkreten Situation ergebend. Sie unterbrechen immer wieder den Handlungsverlauf und zwingen die Leserin dazu, sich selbst mit Pauls Fragen auseinanderzusetzen. Seine grundsätzliche Verwirrung über die vielfältigen, oft widersprüchlichen und schwer verständlichen Ereignisse in seinem Leben spiegelt sich in seinen Träumen wider, deren Entschlüsselung einer gesonderten Betrachtung bedürfte.

Faszinierend an dem Roman ist die Struktur, die der Struktur des Lebens ab der Lebensmitte nachgebildet ist, wie Houellebecq sie zu sehen scheint. Auf dem Höhepunkt eines einigermaßen erfolgreichen Lebens haben die Figuren seines Romans einen mehr oder weniger weiten Bedeutungsradius bis hin zu einem großen öffentlichen Bekanntheitsgrad. Die privaten Beziehungen sind in dieser Lebensphase der öffentlichen Existenz nachgeordnet. Das ändert sich mit zunehmendem Alter, in Lebenskrisen oder beim Ausbruch einer lebensbedrohlichen Krankheit, wenn die Figur auf sich selbst zurückgeworfen ist. Öffentlichkeit und Außenwelt geraten zunehmend aus dem Blick. Was jetzt zählt, sind die Familie und eben die Liebe.

Konsequenterweise löst sich der Krimi nicht mehr auf. Es ist nicht mehr wichtig, wer hinter den Anschlägen steht. Wichtig ist zum Schluss nur noch die Zweisamkeit in der Liebe.

Am Ende gibt es einen Hoffnungsschimmer für die, die an die Reinkarnation und entsprechend eine Wiederbegegnung glauben können. Houellebecq lässt uns als Leserinnen und Leser im Unklaren darüber, ob auch er diese Hoffnung teilt. Aber das ist unerheblich. Houellebecq verweist auf diese Möglichkeit, ohne jedoch am Ende missionarisch zu sein.

Ich habe diesen Roman mit großem Interesse gelesen, auch weil Houellebecq uns in viele Wissensgebiete führt. Das ist nie belehrend, sondern ergibt sich immer funktional aus der Welt, in der seine Figuren leben.

„Vernichten“ ist ein Roman, der viele Aspekte unserer postmodernen Welt aufblättert und uns herausfordert, unsere Gewissheiten zu hinterfragen und uns gegebenenfalls neu zu positionieren. Kein Satz auf diesen 621 Seiten ist zu viel. Auch sprachlich ist der Roman, wie immer bei Houellebecq, bzw. bei der vorzüglichen Übersetzung, ein Vergnügen.

Der Roman ist in der Übersetzung von Stephan Kleiner und Bernd Wilczek im Dumont Verlag erschienen,  hat 621 Seiten und kostet 28 Euro.

Elke Trost

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