Sibylle Anderl: „Dunkle Materie“

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„Dunkle Materie“ und ihr Zwilling „Dunkle Energie“ sind seit Jahrzehnten Dauerbrenner der Kosmologie, stellen sie die Forscher doch vor fundamentale Erkenntnisprobleme. Sibylle Anderl, die selbst auf dem Gebiet der Astrophysik promoviert wurde, hat in dem vorliegenden Buch den gegenwärtigen Stand der Forschung zum ersteren Thema aufbereitet. Das zweite „dunkle“ Thema, die Energie, erwähnt sie kurz, aber verweist diese eigene Problematik an eine noch zu schreibende Analyse.

Anderl geht ihre Aufarbeitung nicht in erster Linie als Verfasserin eines populärwissenschaftlichen Werkes für ein möglichst breites Publikum an, sondern setzt trotz eingängiger und verständlicher Schreibweise von vornherein physikalische Kenntnisse auf nicht zu geringem Niveau voraus. Als Beispiel für diesen durchaus nachvollziehbaren Ansatz sei ihr Hinweis genannt, dass man die Triangulation für Entfernungsschätzungen nur für Objekte in der kosmologischen Nähe anwenden können, ohne diese näher zu erklären.

Das Buch ist in vier Kapitel unterteilt. Im ersten erklärt sie detailliert, wieso man überhaupt darauf gekommen ist, dass es diese ominöse „dunkle“ Materie geben müsse, im zweiten führt sie alle derzeitigen Erklärungsmodelle dieses Materietyps auf, um im dritten schließlich auf die Probleme des kosmologischen Standardmodells zu sprechen zu kommen, das im Wesentlichen auf Einsteins Relativitätstheorie basiert. Im vierten Kapitel schließlich fügt sie ein paar philosophische Überlegungen über Art und Grenzen der naturwissenschaftlichen Erkenntnis an.

Im ersten Kapitel geht sie methodisch auf die Arbeiten der letzten Jahrzehnte ein, die schließlich zu der Forderung der Existenz einer „dunklen“, d.h. nur indirekt nachweisbaren Materie führten. Demnach hat man aus einem bekannten Standard der Leuchtstärke bestimmter Sterntypen auf deren Entfernung schließen können. Da die Leuchtstärke von den inneren Kernfusionsvorgängen in den Sternen abhängt und diese wiederum von der Masse der Sterne, konnte man grob die Masse eines Sternes und damit auch – zumindest grob – die Masse einer fernen Galaxie abschätzen. Damit eine rotierende Galaxis aufgrund der Fliehkraft nicht auseinanderfliegt, benötigt sie eine Mindestmasse, die jedoch durch die sichtbaren Sterne – im statistischen Mittel! – nur zu etwa 15 Prozent gegeben ist. Also muss irgendwo in einer solchen Galaxis eine „dunkle Materie“ den Laden zusammenhalten. Diese zeigt keine Wechselwirkung mit den bekannten Teilchen der Atomkerne, da eine solche Wechselwirkung sich durch entsprechende Energieentwicklung und damit Strahlung zeigen müsste. Die Rotationgeschwindigkeit von Galaxien kann man zum Beispiel anhand des Dopplereffekts ermitteln, der aus der Bewegung der Sterne in und gegen (die) Blickrichtung entsteht.

Nachdem sie diese Gravitationslücke im Kosmos anhand der beschriebenen Beobachtungen konzise beschrieben hat, analysiert sie im zweiten Kapitel die möglichen Charakteristiken dieser Materie. Dazu führt sie die Standardteilchen des Atomkerns bis hinunter zu Gluonen, Bosonen, Quarks und Strings auf und diskutiert ihre jeweiligen Funktionen und die Möglichkeiten, eine andere, nicht wechselwirkende Materieform zu bilden. Da wurden MACHOs angenommen – „MAssive Compact Halo Objects“ -, die als nicht leuchtende Materieklumpen in den Galaxien für Gravitation sorgen, wobei der HALO eine kugelförmige Hülle jeder Galaxie mit besonderen Eigenschaften ist. Dann wiederum hat man WIMPS (Weakly Interacting Massive Particle) definiert, die auf Kernniveau angesiedelt sind und sich unmittelbar nach dem Urknall gebildet haben sollen. Jedoch sind WIMPs wie MACHOs lediglich Annahmen, die entweder in nur geringem Umfang oder noch gar nicht nachgewiesen werden konnten. Für diese beiden Thesen gilt laut Anderl das fundamentale Defizit der Astrophysik, die eigenen Thesen nicht im heimischen Labor durch Experimente belegen, sondern lediglich auf die Übereinstimmung der Theorie mit allen Beobachtungen verweisen zu können, wenn diese denn gegeben ist.

So geht Anderl dann auch auf Einsteins kosmologisches Modell ein, das bisher immer noch gilt, und schildert detailliert die Probleme, die dieses im Hinblick auf die Dunkle Materie beinhaltet. Dabei verzichtet sie auf eigene Thesen und beschränkt sich auf die laufenden Forschungsaktivitäten, deren Ansätze, Unterschiede und – ja: Widersprüche, und spart auch die Kontroversen der Experten bis hin zu persönlichen Animositäten nicht aus. Schließlich haben viele der beteiligten Wissenschaftler ihr ganzes Karrierepotential in diese Aktivitäten investiert, und da möchte man sich von der Gegenseite nicht die Nutzlosigkeit der eigenen Arbeiten attestieren lassen. Dass die Gegentheorie zu der „Mainstream“-These – „/\CDM“ mit „/\“ für dunkle Energie und CDM für „Cold Dark Mass“ – ausgerechnet mit dem Kürzel „MOND“ (MOdifizierte Newton´sche Dynamik) benannt ist, entbehrt nicht einer gewissen Ironie – zumindest im deutschen Sprachraum. MOND stellt die gewagte These auf, dass man Newtons Bewegungs- und Gravitationsgleichungen nur zu modifizieren brauche, um das seltsame Verhalten der Galaxien zu erklären, und ganz auf Einsteins Relativität verzichten könne. Doch auch dieser Ansatz ist laut Anderl wiederum nicht mit allen Beobachtungen kompatibel, so dass der wissenschaftliche Streit weiter wogt.

Im vierten Kapitel verweist Anderl unter anderem darauf, dass alle neueren Erkenntnisse aus massiven Computer-Simulationen stammten, die weniger von praktischen Experimenten – wie immer die aussehen könnten – als vielmehr von der wissenschaftlichen Phantasie der Forscher gefüttert werden. Notgedrungen entfernten sich damit die Forscher immer weiter von der realen Welt in die Welt der theoretischen Modelle, die sich durchaus ungewollt von der ersteren entfernen könnten. Die Erkenntnis des Kosmos vom Urknall bis heute und dem spekulativen Ende des Universums ist für sie eine rein denkerische Aufgabe, die wir wohl niemals am praktischen Beispiel werden beweisen können.

Dieses Buch sei allen Interessierten empfohlen, die bereit sind, sich auf das intellektuelle Abenteuer physikalisch-mathematischer Spekulationen einzulassen, die zwar alle auf der (menschlichen) Logik beruhen, aber deren Grenzen zwangsläufig berühren wenn nicht sprengen. Der Rest ist Schweigen.

Das Buch ist im Verlag C. H. Beck erschienen, umfasst 128 Seiten und kostet 9,95 Euro.

Frank Raudszus

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