Jean-Pierre Wils: „Der Große Riss“

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Bücher über gesellschaftliche Spaltungen sind derzeit – aus guten Gründen – en vogue, allerdings beleuchten sie meist den sozialen, sprich: materiellen Aspekt. Der belgische Philosoph Jean-Pierre dagegen nimmt die Corona-Pandemie als Ausgangspunkt seiner Philippika gegen den Lebensstil (nicht nur) der westlichen Welt, der für ihn in eine Endzeit-Stadium eingetreten ist. Diesen Zustand verbindet er jedoch nicht mit einer alarmistisch-apokalyptischen Polemik, sondern analysiert die Situation in nüchterner, stets an Fakten und logischer Konsistenz orientierter Argumentation.

Im ersten von drei Teilen leitet er die Pandemie als Ergebnis einer überhitzten, auf einer ins Endlose gesteigerten Globalisierung her, die für ihn nicht einem allen nützenden freien Handel sondern allein der „Reichweitenvergrößerung“ vor allem der westlichen Zivilisationen dient. Unser Leben „auf der Überholspur“ hat demnach jedes Maß verloren, und die Pandemie ist nur eine geradezu natürliche Folge dieser Missachtung aller natürlichen(?) Grenzen.

Dieses Rennen nach persönlichem Erfolg und „Ego-Erweiterung“ beruht für ihn – durchaus nachvollziehbar – auf dem neoliberalen Wirtschaftsmodell des Westens, das keine geschützten Reviere mehr kennt und auch noch den letzten – geographischen und ideellen – Flecken für die Eroberung durch den Westen freigegeben hat. Dabei nimmt er unter anderem die Botschaft der „gleichen Ausgangschancen“ in der freien Marktwirtschaft aufs Korn, die für ihn die ungleichen Ausgangsbedingungen hinsichtlich sozialer und intellektueller Herkunft außer Acht lässt. Dadurch entsteht für ihn geradezu deterministisch eine Schicht der Abgehängten und Verlierer. Der Meritokratie, die angeblich Talent und Fleiß entsprechend belohnt, misstraut er deshalb zutiefst. Diese Einsicht scheint ihn im ersten Augenblick zu ehren, doch bleibt sie die konkrete Antwort nach Alternativen zu einer leistungsorientierten Gesellschaft schuldig, die sowohl geringstmögliche soziale Unterschiede als auch einen angemessenen Wohlstand gewährleistet. Die durchgängig fehlenden Verweise auf alle Spielarten des Sozialismus der letzten zehn Dekaden geben jedenfalls zu denken.

Dennoch ist seine Analyse der westlichen Gesellschaft faktisch weitgehend zutreffend, wenn er die Resignation weiter gesellschaftlicher Kreise gegenüber der rasant steigenden Komplexität und Unüberschaubarkeit der Welt sowie den Übergang dieser Resignation in Ressentiments gegen – echte oder vermeintliche – Eliten und in vereinfachende Weltmodelle bis hin zu Verschwörungstheorien beschreibt. Dabei verteidigt er dieses Abdriften in einfache Freund-Feind-Ideologien durchaus nicht sondern erklärt sie sozusagen als Anwalt des „kleinen Mannes“, der nicht über die Fähigkeiten der Reflexion und der intellektuellen Gesamtschau verfügt. Gerade dieses Verständnis jedoch zeigt sein eigenes Dilemma als nicht zu leugnender Vertreter dieser Eliten, der über all diese Fähigkeiten verfügt und – mit diesem Buch – die elementare Existenzberechtigung der Eliten beweist. Seine verständnisvolle Verteidigung der „Abgehängten“ ist in gewisser Weise eine paradoxe Bestätigung ihrer desolaten Situation.

Im zweiten Teil beschreibt er das Auseinanderdriften der gesellschaftlichen Schichten im Detail. In einer gegen den Strich gebürsteten Würdigung der Entwicklung von den „Jägern und Sammlern“ zu den sesshaften Agrargesellschaften gesteht er Ersteren eine wesentlich erdverbundenere und ökologischere Lebensart zu, während Letztere für ihn durch die Akkumulation und Domestikation von Fauna und Flora erst die Viren auf den Plan gerufen hätten. Durchaus nicht unplausibel macht er letztlich gerade den menschlichen Erkenntnis- und Veränderungsdrang verantwortlich für die virale Reaktion der Natur. Dass dahinter nicht die wissenschaftlichen Erkenntnisse eines Virologen stehen, macht sie nicht von Anfang an unglaubwürdig, lässt aber einige Fragen offen. Wahrscheinlich wäre eine noch heute bestehende Nomadenkultur diesen Gefahren nicht ausgesetzt, doch fragt sich, abgesehen von der Lebenserwartung eines typischen steinzeitlichen Nomaden, was uns diese Erkenntnis angesichts der heute existierenden Weltbevölkerung nützt. Ähnliches gilt für die fulminanten Ausführungen über die Metaphorik unserer Sprache, vor allem bezüglich krisenhafter bis apokalyptischer Zustände, die zwar sprachhistorisch und literarisch tief gehen, jedoch einen eher ästhetischen Beitrag zum Thema des gesellschaftlichen Risses darstellen.

Intellektuell erhellend und stilistisch mitreißend sind jedoch Wils´ Ausführungen über unsere derzeitige Realität, die weitgehend eine digitale und damit virtuelle ist. Eindringlich schildert Wils den Verlust nicht nur analoger und haptischer Fähigkeiten und Erfahrungen, sondern vor allem die Aufgabe des lokalen und damit unmittelbaren sozialen Raums durch die sozialen Medien. Die Daten des digitalen Raumes überschwemmen den Einzelnen nicht nur, sondern sie vermitteln ihm auch den irrigen Eindruck, den lokalen Raum mit all seinen menschlichen Reibungsflächen gewinnträchtig gegen einen globalen virtuellen Raum eintauschen zu können. Die Konsequenz ist – nicht nur – für Wils die weitgehende Isolation des Individuums von seinem direkten sozialen Umfeld mit allen Konsequenzen wie Desolidarisierung und Ressentiment.

Daraus erwächst für ihn geradezu logisch der Hang zu relativistischen Weltanschauungen, die „Fakten“ nur mehr ihrem jeweiligen Kultur- und Denkkreis zuordnen und deren Faktizität für andere Kreise schlichtweg in Frage stellen oder gar ablehnen. Sind Weltanschauungen und (moralische) Grundsätze erst einmal relativistische Privatangelegenheit, dann gelte letztlich „anything goes“ und Diskurse seien unmöglich. Das führt Wils schließlich zu dem unter Fachleuten bekannten Trilemma von Demokratie, Nationalstaat und Globalisierung, von denen immer nur zwei zu haben seien: Nationalstaat und Demokratie funktionieren nur lokal, Nationalstaat und Globalisierung nur nach dem autoritären Prinzip (Red.: China!), und Demokratie und Globalisierung seien ohne Nationalstaat eine unrealistische Utopie. Daher rührt für Wils angesichts der aktuell existierenden Globalisierung auch die in westlichen Staaten zunehmend spürbare Demokratiemüdigkeit.

Im letzten Teil entwirft Wils dann Alternativmodelle, was ihm angesichts der andernorts anzutreffenden Beschränkung auf die Analyse hoch anzurechnen ist. In fast schon missionarischem Eifer, jedoch ohne falsche Polemik oder utopische Romantik, beschwört er angesichts weiterer zu erwartender Pandemien und der drohenden Klimakatastrophe die Einkehr und Umkehr bezüglich der persönlichen Lebensführung. Er spricht dabei vornehmlich die westliche Kultur an, wohl deshalb, weil er dort im Gegensatz zu den bekannten „groß-autoritären“ Systemen noch über einen gewissen Einfluss verfügt – eben über das vorliegende Buch. Man sollte ihm also nicht den wohlfeilen „What about“-Vorwurf über fehlende Kritik an diesen Systemen machen.

Neben einer mit einigem Aufwand realisierbaren Autarkie lokaler Räume – Europa? Nationalstaaten? Bundesländer? – hinsichtlich der Versorgung mit Grundgütern verlangt er auch die Rückführung vieler solcher Güter aus der Privatwirtschaft in die öffentliche Verantwortung. Vor allem letzteres hört sich gut an und erntet sicher viel Beifall, nur fehlen leider konkrete Vorschläge, denn die historisch bekannten Versuche der Vergemeinschaftung gesellschaftlicher Gemeingüter wie Gesundheit, Wasser, Strom und Nahrungsmittel waren nicht von Erfolg gesegnet. Seine sogar offen vorgetragene Forderung auf den Verzicht von Profit implizieren letztlich eine staatlich verordnete Mangelwirtschaft à la DDR, denn ein Gemeinwesen, das eine weitestgehende Grundversorgung der Gesellschaft unter bewusster Vernachlässigung der Rentabilität organisiert, steht irgendwann vor einem wie immer gearteten Bankrott, wie viele praktische Beispiele zeigen. Man möchte Wils auch in diesem Punkt gerne folgen, aber es fehlen die Vorschläge oder zumindest Anregungen für eine realistische Umsetzung.

Trotz dieser Schwächen ist dieses Buch als schonungslose gesellschaftliche Bestandsaufnahme nicht nur der westlichen Hemisphäre geradezu eine Pflichtlektüre für jeden, der sich um die Welt sorgt und sich um die eigene Lebensführung sorgen sollte.

Es ist im Hirzel-Verlag erschienen, umfasst 269 Seiten und kostet 24 Euro.

Frank Raudszus

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