Judith Kuckart: „Café der Unsichtbaren“

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Judith Kuckarts „Café der Unsichtbaren“ ist ein eigentümlicher Roman. Es werden Geschichten erzählt, Kindheitserinnerungen ausgetauscht oder auch wieder durchlebt. Das Thema Zeit durchzieht den ganzen Roman: Welche Bedeutung hat die Vergangenheit für den Einzelnen, wie stehen aktuelle Begegnungen mit Begegnungen der Kindheit in Zusammenhang? Ist es so, dass im Leben alles zusammenhängt, dass uns unsere Kindheit immer wieder einholt?

Die Geschichten ergeben sich aus einer besonderen Situation: Sieben Menschen sind sich in Berlin bei einem Ausbildungsseminar für Telefon-Seelsorge begegnet, zwei Männer und fünf Frauen, im Alter zwischen Mitte zwanzig und fast 80. Seit vier Jahren sind sie dabei, je nach Dienstplan treffen sie sich in ihrem Dienstzimmer, das auf einen Hinterhof zeigt.

Wir erleben diese sieben Menschen über die Ostertage von Gründonnerstag bis Ostermontag. Sie haben dieses Ehrenamt aus den verschiedensten Gründen übernommen, gemeinsam ist ihnen allen Einsamkeit, die sie bei der Hilfe für andere überwinden zu können hoffen. Tatsächlich geschieht das Gegenteil. Die Geschichten der Anrufer, deren Verzweiflung und Einsamkeit, erfordern zwar einerseits die Professionalität der „Seelsorger“, gleichzeitig aber lösen diese bei ihnen Reflexion über die eigene Lebensgeschichte aus. Erinnerungen an problematische Mutter-Tochter-Beziehungen; Erinnerungen an abwesende Väter, an Väter, die die Familie verlassen haben; Erinnerungen an traumatische Begegnungen.

Über die Feiertage kommt es zu Annäherungen unter den sieben Figuren. Die Ostertage sind ein Anlass, über das eigene Leiden zu sprechen – Karfreitag! –, neue Hoffnungen zu entwickeln und schließlich neue Perspektiven für das eigene Leben zu entdecken. Die Jüngeren und die im mittleren Alter sehnen sich nach Partnerschaft und werden aktiv, die Älteren blicken auf ihr Leben zurück und finden es gut so.

Judith Kuckart verknüpft immer wieder beide Ebenen, die der Anrufer und die der „Seelsorger“. Die Anrufer  erleben wir im direkten Dialog, und wir erfahren, wie die Beraterinnen die Anrufenden einschätzen. Eine Innensicht der Anrufer gibt es nicht. Deshalb bleiben auch die Ratschläge auf sehr allgemeiner Ebene, nach professionell vorgegebenem Muster des aktiven Zuhörens. Es zeigt sich, dass die Berater und Beraterinnen selbst der Seelsorge bedürfen. Im Gegensatz zu den Anrufern gelingt es ihnen aber zunehmend, innerhalb ihrer kleinen Gruppe zu kommunizieren und sich über sich selbst klar zu werden.

Die Geschichten der Anruferinnen werden dabei zweitrangig. Sie werden kategorisiert und als Fälle behandelt, wirkliche Kommunikation ist das nicht, denn es gibt kein Gegenüber, die Anrufenden bleiben unsichtbar. Es gibt die wirklich Verzweifelten, die möglicherweise oder auch tatsächlich kurz vor dem Suizid stehen. Es gibt aber auch die, die nur reden wollen oder ihre Spleens pflegen wollen, wie etwa der, der verkündet, er werde in 6 Jahren Papst werden. Sie brauchen  nur jemanden, der oder die zuhört.

Dann sind da noch die Aggressiven oder die Anzüglichen, die vor Beleidigungen nicht zurückschrecken. Das bringt die junge Rieke, Theologiestudentin, in Nöte, weil sie hinter der Anzüglichkeit des Anrufers eine wirkliche Bedrohung fürchtet. Für sie schließt sich ein Kreis, hat sie doch als Kind übergriffiges Verhalten eines Nachbarn erfahren. Zum Glück kann man einen solchen Anrufer blockieren.

Judith Kuckart präsentiert mit dieser Konstruktion ein Kaleidoskop von Lebensgeschichten, die unbewältigte Kindheitserlebnisse zur Sprache bringen, verkorkste Laufbahnen wie bei dem 45-jährigen Matthias, der immer wieder verschiedene Gelegenheitsjobs annimmt, aber keinen Boden unter den Füßen findet. Oder es sind unglückliche Ehegeschichten wie bei dem pensionierten Physiker Dr. Lorenz, der mit Frauen einfach kein Glück hat und deshalb lieber alleine bleibt, mit einem Baseball-Käppi und einem Rennrad, das ihm noch den Anschein von Jugendlichkeit gibt. Sein Hobby ist es, mit dem Fernrohr in den Kosmos zu schauen, um Kontakt mit den Verstorbenen aufzunehmen.

Darüber hinaus prallen hier in Berlin ehemalige Ost-Biografien auf West-Biographien, das führt zu Missverständnissen. Denn wer aus dem Westen kann schon verstehen, was eine Kindheit in der ehemaligen DDR bedeutet und wie einen das das ganze Leben lang nicht loslässt?

Die Figuren sprechen miteinander und übereinander, sie begegnen sich und sie gehen auseinander. Kuckart lässt sie dieselben Situationen aus den unterschiedlichen Perspektiven erleben, etwa den Blick aus dem Dienstzimmer auf den Hinterhof, in dem eine alte, schmuddelige Couchgarnitur herumsteht.

So ist die Leserin mit einem ständigen Perspektivwechsel konfrontiert, der Wechsel zwischen aktuell erlebter Situation und dem Zurückblicken in die Erinnerung erfolgt ohne Kommentierung und ohne Übergang. So wechselt auch die Erzählhaltung von auktorialer Außensicht zu personaler Innensicht, manchmal bleibt unklar, wer hier über wen spricht oder nachdenkt. Das bedarf erhöhter Aufmerksamkeit beim Lesen.

Die vielen Perspekivenwechsel erweisen sich schließlich als raffinertes Spiel mit der Erzählhaltung: Die fast 80jährige Frau von Schrey spricht in der 1. Person. Sie ist die Beobachterin, die aus ihrer großen Lebenserfahrung meint, alle einschätzen zu können. Ihre Hauptmotivation für das Amt der Telefon-Beratung ist ihre Schlaflosigkeit. Die Geschichten der anderen, sowohl die der Anrufer als auch die der Kolleginnen und Kollegen, lenken sie ab. „Wer erzählen will, muss nur eine Zeit zuhören, nein, hinhören!“, bekennt sie am Schluss und outet sich damit als Erzählerin der Geschichten der anderen. Sogar für deren Zukunft macht sie verschiedene Entwürfe. Es sind ihre Geschichten über die anderen, die aus dem Zuhören entstehen, mögliche Lebensgeschichten, die ganz anders sind als die eigene, aber nicht weniger verworren und widersprüchlich und mit vielen Umwegen. Über ihre eigene bewegte Lebensgeschichte erfahren wir erst ganz zum Schluss etwas. Erzählen also als Mittel, mit sich selbst besser zurechtzukommen? Sollte das Kuckarts Botschaft sein?

Aus Nächstenliebe jedenfalls macht Frau von Schrey den Job so wenig wie die übrigen sechs.

Judith Kuckart hat ehrgeizige Ziele, nimmt sie sich doch der ganz großen Themen an, des Problems der Zeit, des Alterns und des Todes. Die Frage ist, ob sie sich damit nicht etwas übernimmt. Die Gespräche oder auch die Selbstreflexionen haben bisweilen etwas sehr Sentenzenhaftes, nicht ganz zu Ende Gedachtes, so dass man sich als Leserin fragt, ob das nicht alles schon besser und tiefgründiger in anderen Romanen erzählt worden ist. So bleiben die Figuren etwas fragmentarisch, das liegt auch an der zeitlichen Begrenzung der erzählten Zeit auf die fünf Ostertage.

Dennoch ist das insgesamt ein lesenswertes Buch, bewusst komponiert mit einer Motivstruktur, die einerseits die Trostlosigkeit der unmittelbaren Umgebung des Seelsorge-Büros zeigt, zum andern aber auch eine glücksverheißende Gegenwelt eröffnet, etwa wenn die Mittvierzigerin Wanda mit der Mittfünfzigerin Marianne am Ostermontag in die Natur an einen See fährt. Wanda erlebt angesichts der Schönheit der Natur ein bis dahin nie erfahrenes Glücksgefühl, Marianne wiederum ist sicher, dass auch sie noch nicht zu alt ist für die Liebe.

Was soll man nun von diesen Ostertagen halten? Ist es die frohe Botschaft der Auferstehung, dass Menschen wieder neuen Mut und neue Hoffnung auf eine bessere Zukunft entwickeln, oder muss man skeptisch sein, im Sinne von Fausts „Die Botschaft hör ich wohl, allein mir fehlt der Glaube“?

Das Buch ist im Dumont Verlag erschienen, es hat  203 Seiten und kostet 23 Euro.

Elke Trost

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