Joel Dicker: „Die letzten Tage unserer Väter“

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Ende 1940 hatten die Deutschen zwar die Luftschlacht gegen England verloren, aber dagegen das restliche Westeuropa vom Nordkap bis zur spanischen Küste besetzt. Für junge Franzosen gab es nur die Alternativen des Wegduckens, der Résistance oder der Flucht in ein anderes Land, verbunden mit der Möglichkeit des aktiven Widerstands. Am Beispiel des jungen Parisers Paul Emile schildert der Autor die dritte Variante. Paul Emile lebt seit dem frühen Tod seiner Mutter zusammen mit seinem Vater in einem symbiotischen Verhältnis, das weit über das zwischen Vater und Sohn übliche hinausgeht. Die beiden stützen sich gegenseitig und damit sich selbst und gehen in ihrer Zweisamkeit vollkommen auf – fast wie ein Liebespaar.

In einem Gespräch mit einem geheimen Vermittler junger Leute an ausländische – sprich: alliierte – Organisationen entdeckt dieser die Eignung Paul Emiles für eine Agententätigkeit. Denn im Gegensatz zu den weit verbreiteten „Rambo“- oder „007“-Vorstellungen benötigt man dort unauffällige, zurückhaltende, aber intelligente und belastbare Charaktere. So kommt Paul Emile zu der britischen SOE (Special Operations Executive) in London und trifft dort auf knapp ein Dutzend anderer Freiwilliger, bis auf die Londonerin Laura alle französische Freiwillige. Dort erhält er den Kampfnamen Pearl, eine Maßnahme, die Rückschlüsse auf seine wahre Herkunft schwieriger machen soll.

Anfangs beäugt man sich misstrauisch und sucht erst einmal die Schwachpunkte oder unangenehmen Seiten der anderen, um sich selbst ein wenig aufzuwerten, doch die kluge Führung durch die englischen Offiziere und das körperlich und seelisch harte Training schweißen die kleine Truppe bald zusammen. Nach einem halben Jahr ist die Zahl auf sechs zusammengeschrumpft, weil einige die körperlichen Strapazen oder die nervliche Belastung nicht aushalten. Einer von ihnen erschießt sich sogar.

Sie lernen viel über das Verhalten im Feindesland, die geheime Kommunikation, Methoden des Nahkampfes und natürlich Schießen, und sogar die Angst vor dem nächtlichen Fallschirmsprung aus einem tief fliegenden Flugzeug müssen sie mehrere Male zähneknirschend überwinden.

Als Zuhörer wundert man sich, dass sich die jungen Männer nicht schon vom ersten Tag an um die als sehr hübsch beschriebene Laura reißen, aber das mag auch an der Jugend der Männer, der Sprachbarriere und der mehr von Scheu und Prüderie geprägten Zeit liegen. Schließlich finden Paul Emile und Laura zusammen, erst noch recht platonisch und kurz vor dem Ende der Ausbildung richtig, was jedoch glücklicherweise nicht „en detail“ geschildert wird.

Dann beginnen die Einsätze im besetzten Frankreich, die meist jedoch im Hinterland und nicht in den Zentren stattfinden, wo die Deutschen sehr präsent sind. Die jungen Agenten unterstützen die Résistance-Kämpfer mit Waffen, Funkgeräten und Ausbildung und geraten dabei auch öfter in gefährliche Situationen. Als Zuhörer erwartet man dramatische Aktionen mit – zumindest teilweise – tragischem Ausgang, aber die Handlung entwickelt sich eher langsam und nicht in Form eines Atem raubenden Thrillers. Dabei wird die Geschichte durchgehend aus der Perspektive von Paul Emile und Laura erzählt.

Wichtig sind dem Autor nicht die Kampfhandlungen, sondern die sich langsam entwickelnden Charaktere der jungen Männer. Alle sind in gewisser Weise als unfertige, naive oder vordergründig aufschneiderische in diese Situation geraten und müssen sich sowohl als Gruppenmitglieder wie auch als Agenten erst finden. Sehr schön schildert der Autor die großen Selbstzweifel und die kleinen Zusammenbrüche, die man gerne versteckt, oder den Wunsch, alles hinzuschmeißen. Doch letztlich folgen sie alle mehr oder minder bewusst einem Ehrenkodex, demzufolge ein Aufgeben „feige“ oder „unmännlich“ wäre, wie immer man das nennen will. Niemand möchte vor den Augen der anderen kneifen, und so kämpfen sie sich nicht nur durch die Ausbildung, sondern dann auch durch die gefährlichen Einsätze. Nach einiger Zeit sehnen sie sich bei den kurzen Urlauben in London nach dem nächsten Einsatz, weil nur diese Einsätze ihrem Leben Sinn verleihen.

Und dann naht der erzählerische Bruch, den wir hier aber nicht enthüllen wollen. Eine tragische Verkettung von eigener Schuld und der Aufmerksamkeit der deutschen Abwehr in Paris führt zu einer dramatischen Zäsur, nach der die Handlung erst wieder anlaufen muss. Doch nach einiger Zeit gewinnt diese unter geänderten Bedingungen weiter laufende Handlung wieder Tempo und einen eigenen Sinn. Der Autor verletzt zwar die alte Schreibregel, die dramatische Auflösung der Geschichte bis zum Ende aufzubewahren, gewinnt dadurch aber mehr epische oder gar philosophische Tiefe.

Torben Kessler, der bereits andere Romane dieses Autors eingelesen hat, verleiht den Figuren ein je eigenes Wesen ohne jegliche Klischees und lässt dabei ihre Schwächen und Stärken zum Ausdruck kommen. Man lernt durch ihn die unterschiedlichsten, noch unfertigen Charaktere kennen, die sich alle in existenziellen Situationen auf die eine oder andere Weise bewähren müssen und dies auch tun.

Das Hörbuch ist bei Hörbuch Hamburg in der Reihe Osterwold erschienen, umfasst zwei mp3-CDs mit einer Gesamtlaufzeit von 768 Minuten und kostet 24 Euro.

Frank Raudszus

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