Javier Marias: „Mein Herz so weiß“

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Der Roman „Mein Herz so weiß“ des spanischen Autors Javier Marias erschien bereits 1996 in der deutschen Übersetzung von Elke Wehr. Damals habe ich den Roman mit Begeisterung gelesen. In der Erinnerung war geblieben, dass der Roman mit einem ungeheuren Ereignis beginnt, dessen Hintergründe – wie in einem Kriminalroman – erst am Ende aufgelöst werden. Wie im Einzelnen die Handlung verlief, war mir entfallen. Anlässlich des Todes von Javier Marias im September 2022 griff ich erneut zu „Mein Herz so weiß“ und war genauso fasziniert wie vor 26 Jahren.

Worum geht es? In Madrid erschießt sich eine junge Frau unmittelbar nach der Hochzeitsreise im häuslichen Badezimmer während eines größeren Essens im Kreise von Familie und Freunden.

Dieses Ereignis liegt zum Zeitpunkt des Erzählens bereits 40 Jahre zurück. Juan, der 35-jährige Neffe der Toten, ist seit knapp einem Jahr mit Luisa, einer etwa gleichaltrigen Dolmetscher-Kollegin, verheiratet. Erst vor kurzem hat er durch einen Zufall erfahren, wie seine Tante zu Tode gekommen ist. In der Familie ist über dieses Ereignis geschwiegen worden, keiner weiß, welches Motiv die junge Frau gehabt haben könnte. Ranz, sein Vater, weigert sich, über die Vergangenheit zu sprechen. Aber die Frage nach dem „Warum?“ bleibt als bohrende Frage, besonders für Luisa, die junge Frau. Sie ist sicher, das herausfinden zu können.

Der neue Familienstand ruft in Juan einige Unruhe hervor, insbesondere zwei „Unbehagen“, wie er es nennt. Es ist zum einen das Unbehagen, dass mit der Eheschließung eine Form von Gemeinsamkeit beginnt, die die Frage aufkommen lässt, was jetzt noch kommen mag, wenn man doch stets alles zusammen plant, zusammen von zu Hause ausgeht, zusammen zurückkehrt. Alles ist auf das „Wir“ ausgerichtet, alles ist auf die Ehe als Ziel oder Endpunkt ausgelegt. Zukunft erscheint ihm damit nicht mehr offen oder „abstrakt“, sondern nur noch konkret auf die nächsten Schritte ausgerichtet. Zum andern löst dieses neue „Wir“ in ihm eine unbestimmte Angst vor einem großen Unglück aus, ohne dass es dafür einen bestimmten Anlass gibt.

Das erzählt er in einem Rückblick auf dieses erste Ehejahr, in dem auf der Handlungsebene nicht viel geschieht. Die Hochzeitsreise führt nach Havanna, dem Ort, zu dem er durch die Herkunft seiner Mutter, der Schwester der Toten, eine besondere Beziehung hat. Ein dreimonatiger Arbeitsaufenthalt führt ihn dann nach New York, wo er während der UN-Vollversammlung als Dolmetscher engagiert ist. Ein weiterer Arbeitsaufenthalt von etwa drei Wochen führt ihn nach Genf, wo ihn seine Frau für ein paar Tage besucht.

Jede dieser Stationen ist durch ein besonderes Ereignis gekennzeichnet, auf das der Erzähler mit der erzählerischen Lupe blickt. Immer geht es um die Beziehungen von Männern und Frauen, die der Erzähler als Analogien darstellt, als wenn sich stets das gleiche Spiel vollzieht. In Havanna ist es die Beobachtung einer Frau, die verzweifelt um den Liebhaber kämpft. Der Beobachter erkennt, dass das hoffnungslos ist, sie aber offenbar nicht.

In New York wohnt er bei einer alten Freundin, die sich ständig von Dating-Agenturen potenzielle Liebhaber zuführen lässt, ohne jemals die erhoffte dauerhafte Beziehung zu erreichen. Juan begleitet sie während der Dauer seines Aufenthalts und ist ihr sogar bei der Erstellung eines äußerst demütigenden Selbst-Videos behilflich, auf dessen Wirkung sie wieder einmal ihre ganze Hoffnung setzt. Als Beobachter erkennt er das Illusionäre ihrer Hoffnungen

In Genf begegnet er in Begleitung seiner Frau einem alten Freund seines Vaters, der ihm überraschende Details über das frühere Leben des Vaters offenbart, von denen er keine Ahnung hatte. Auch hier gab es offenbar komplizierte Beziehungssituationen, die nun aber näher an den Erzähler heranrücken. Auch jetzt ist es wieder Luisa, die genau nachforschen will, wo Juan lieber die Augen vor der Wahrheit verschließen möchte.

Es entwickelt sich ein Spannungsbogen, der zunehmend auf die Figur seines Vaters Ranz gerichtet ist. Ranz ist eine schillernde Figur, ein Lebemann, der es mit Kunstverstand und nicht immer ganz legalen Geschäften zu einem beträchtlichen Vermögen gebracht hat. Er gefällt sich in der Rolle des Beraters für die jungen Leute, insbesondere kümmert er sich gerne um die Schwiegertochter, wenn der Sohn längere Zeit abwesend ist.

Juan dagegen ist der Grübler, bei dem jede Begegnung, jedes Ereignis Reflexionsprozesse auslöst, die den Fortgang der Handlung unterbrechen. Was bedeutet das Schweigen in Familien? Ist es möglich die Wahrheit zu erkennen? Oder ist Wahrheit genau das, was nicht erzählt wird? Erzählen bedeutet, tatsächlich Geschehenes zu verändern, vielleicht sogar zu verbergen. Andererseits wird erst durch das Sprechen eine Tat wirklich zur Tat, weil sie öffentlich geworden ist. Der Erzähler beruft sich auf Shakespeares Macbeth. Erst als Macbeth seiner Frau gesteht „I have done the deed“, ist der Mord als seine Tat wirklich. Auch der Titel „Mein Herz so weiß“, der als Motto dem Roman vorangestellt ist,  ist ein Zitat aus Macbeth. Lady Macbeth, als Anstifterin und nun Mitwisserin, ermutigt Macbeth, zu seiner Tat zu stehen, indem sie auf sich selbst verweist: „My hands are of your colour; but I shame to wear a heart so white“. In welchem Bezug dieses Zitat zum Roman steht, insbesondere zum Schluss, mag jede Leserin, jeder Leser selbst herausfinden.

Für den Protagonisten ist das Geheimnis, das zwei Liebende haben, das Moment, das sie zusammenschweißt, aber gleichzeitig auch die Gefährdung dieser Beziehung. Indem ich dem anderen meine tiefsten Geheimnisse auf dem gemeinsamen „Kopfkissen“ anvertraue, mache ich den anderen zum Komplizen, liefere  mich aber gleichzeitig auch aus. Ehe wird damit zur Gratwanderung zwischen Verschwiegenem und Erzähltem, zwischen Versicherung und Zweifel. Dafür steht als Motiv, das den Roman durchzieht, eben dieses „Kissen“.

Was die Lektüre so faszinierend macht, ist das Geflecht von Bezügen und Analogien, die zwischen den verschiedenen Episoden hergestellt werden und die der Erzähler immer wieder vergleichend heranzieht. Da geht es auch um die Situationen des Belauschens, der Blicke von unten nach oben, von oben nach unten, alles feinste Konstellationen, die erst bei nochmaligem aufmerksamem Lesen deutlich werden.

Erinnerungen, die sich aus konkreten Situationen ergeben, durchbrechen immer wieder den chronologischen Ablauf, stellen weiter zurückliegende Ereignisse in Bezug zu jüngst Erlebtem. Auf diese Weise entwickelt der Erzähler sein kritisches Weltbild, das ihn nichts einfach erleben lässt, vielmehr alles seinem analytischen, oft entlarvenden Blick aussetzt.

Dabei kommt es auch zu sehr komischen Situationen, etwa wenn er erzählt, wie er Luisa kennen gelernt hat. Er ist als Dolmetscher für ein Gespräch mit zwei hohen staatlichen „Würdenträgern“  engagiert, Luisa ist seine Ko-Dolmetscherin, die für den korrekten Ablauf zuständig ist. Köstlich, wie er in das Gespräch eingreift, es verändert, aus dem sinnlosen Austausch von Worthülsen ein Gespräch generiert, in dem er die „Staatslenkerin“ zu sehr persönlichen Äußerungen verführt, ohne dass sie und ihr Gegenüber bemerken, dass sie manipuliert werden. Luisa spielt das Spiel mit und macht sich damit schon vom ersten Augenblick ihrer Bekanntschaft zu seiner Mitwisserin eines Geheimnisses.

Um den Krimiplot, der implizit allen Reflexionen unterlegt ist, nicht zu zerstören, soll hier über die Geheimnisse von Ranz nichts verraten werden.

Nur so viel sei vorweggenommen, dass das Unbehagen des Erzählers sich im Laufe dieses ersten Ehejahres auflöst. Seine essentielle eheliche Erfahrung ist das Vertrauen in die Partnerschaft, in der sich beide gegenseitig den Rücken stärken. Luisa deckt für ihn das Geheimnis seines Vaters auf, das ihn nach den ersten vagen Hinweisen quält, hat es doch offenbar mit Ehe zu tun. Er, Juan, ist bei der Erzählung des Vaters nur der verborgene Lauscher, während Luisa die aktiv Nachforschende ist. Damit werden sie beide zu Mitwissern. Auch sie werden sich in die Tradition des familiären Schweigens einreihen.

Die Wahrheit wird weiterhin nach außen verborgen bleiben. So versteht der Erzähler – und offenbar mit ihm der Autor – das Problem der Wahrheit: „Die Wahrheit hängt nicht davon ab, daß die Dinge waren oder geschehen sind, sondern davon, daß sie verborgen bleiben.“ Denn sobald die Dinge erzählt würden, seien sie keine Tatsachen mehr, sondern nur noch Symbole und Analogien, die auf weitere Zusammenhänge verwiesen.

Uns als Leserinnen und Lesern obliegt es, diese Symbole und Analogien zu erkennen und zu ergründen.

Wer Lust hat auf einen hochkomplexen, gleichzeitig spannenden Text, sollte diesen Roman unbedingt lesen, am besten gleich zweimal.

Wer dann noch mehr Lust auf Marias hat, lese danach „Morgen in der Schlacht denk an mich“.

„Mein Herz so weiß“ ist 2013 als Taschenbuch in der Übersetzung aus dem Spanischen von Elke Wehr im S. Fischer Verlag erschienen. Das Buch hat 480 Seiten und kostet 13 Euro.

Elke Trost

One Response to Javier Marias: „Mein Herz so weiß“

  1. Mikka 02/11/2022 at 5:49 pm #

    Hallo Elke,

    eine sehr schöne Rezension, die Lust darauf macht, den Roman nochmal zu lesen! Ich hatte noch die alte senfgelbe Ausgabe von Heyne, das muss die aus den späten 90ern gewesen sein. Allerdings kann ich mich an nichts mehr erinnern, außer „Frau erschießt sich nach Hochzeitsreise“ … Wenn ich mich recht erinnere, hat meine Kollegin (zu der Zeit war ich noch Sortimentsbuchhändlerin) das sehr gerne an Kund:innen empfohlen.

    Ich werde es mal für ein Erneutlesen auf meine Liste setzen!

    LG,
    Mikka

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