Theresia Enzensberger: „Auf See“

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Von der ersten Seite an entwickelt die Autorin dieses Romans eine in ihrer emotionalen Kälte und zwischenmenschlichen Gleichgültigkeit erschreckende Zukunftsvision. Lange Zeit vermutet man einen fast schon metaphysischen Hintergrund und schließlich ein apokalyptisches Ende, doch diese erwartete Pointe tritt nicht ein und überlässt einer eher realpolitischen Aussage mit ideologischem Hauch das Feld. Man scheut den Begriff Enttäuschung, fühlt sich jedoch ein wenig auf den Boden der zeitgeistigen Weltanschauungen zurückgeworfen.

Irgendwann in der näheren Zukunft wächst die siebzehnjährige Yada auf einer künstlichen Insel in der Ostsee auf. Ihr Vater hat diese „Seestatt“ genannte Behausung für eine zukünftige Gesellschaft freier, von keinem Staat gegängelter Menschen vor Jahren gegründet, doch mit der Zeit hat diese Insel ihren einstigen Charme verloren, wirkt heruntergekommen und beherbergt nur noch eine überschaubare Gruppe seltsamer Gestalten. Yadas Vater befindet sich die meiste Zeit auf Reisen durch die ganze Welt, hat aber für seine Tochter im Übermaß gesorgt. Ihre Tage sind gefüllt mit Unterricht aller Art durch Mitglieder der Inselbesatzung, die sich für Yada wie Aufpasser ausnehmen. Laut ihrem Vater ist Europa, ja: die Welt, in Bürgerkriegen und Chaos versunken, so dass man dorthin nicht mehr zurückkehren kann, und Yadas Mutter ist angeblich bereits vor Jahren verstorben. Eine sichtbare Regierung mit sozialen oder ideellen Zielen gibt es auf dieser Insel der angeblich Glücklichen nicht, doch Yada nimmt das alles mangels besseren Wissens um die Welt als gegebene Tatsache hin. Der Leser stutzt bereits hier, da alle zum Leben erforderlichen Dinge zuverlässig vom deutschen Festland bezogen werden und auch die riesigen Felder von Windrädern offensichtlich gut funktionieren, da es genügend Energie gibt.

In einer Parallelhandlung, die sich kapitelweise mit Yadas Inselleben abwechselt, streunt Helena, eine Frau von 31 Jahren, durch Europa und vornehmlich Deutschland, ohne feste Wohnung aber mit vielen Bekanntschaften vielfältigster Art. Sie ist eher per Zufall Künstlerin geworden, oder im Internet zu einer solchen hochstilisiert worden, nachdem sie eher aus Langeweile verschiedene Videos aufgenommen und ins Netz gestellt hat. Seitdem hat sie weltweit begeisterte „Follower“, die sie kritiklos bewundern und ihr ausreichende Werbegelder einbringen. Sie selber hat an nichts Interesse und dämmert eher in die Tage an verschiedenen Orten, später Berlin, hinein.

Die bisherigen Informationen aus diesen beiden Parallelhandlungen wecken früh die Vermutung, dass Helena Yadas durchaus nicht verstorbene Mutter ist, doch wegen des Alters der vermeintlichen Tochter zu einem früheren Zeitpunkt.

Als Yada anhand heimlich eingesehener Aufzeichnungen der Überwachungskameras feststellt, dass sie nachts schlafwandlerische Ausflüge unternimmt, beginnt sie Verdacht zu schöpfen, wagt aber niemand zu fragen, da sie das durchaus berechtigte Gefühl hat, ihre Lehrer überwachten sie in Abwesenheit ihres Vaters. Erst ihre Yoga-Lehrerin, die erstaunlich freigeistig und unabhängig von den Vorstellungen der anderen Inselbewohner wirkt, weckt bei Yada erst Vertrauen und dann Verliebtheit. Mit ihrer Hilfe stellt sie fest, dass ihre angeblichen Vitamintabletten starke Psychopharmaka sind, die letztlich auch die Schlafwandelei verursacht haben. Sie merkt, dass ihr Vater sie betrogen hat und irgendwelche für sie unergründlichen Pläne hegt. Mit der Hilfe der täglichen Dienstleister, die wie Migrationssklaven in einem separaten Schiff vor der Insel mehr hausen als leben, gelingt ihr die Flucht von der Insel, und über verschiedene deutsche Städte gelangt sie nach Berlin, wo Helena unseres Wissens sich bereits aufhält.

Der Tiergarten ist mittlerweile eine große Zeltstadt der sozial Abgehängten, da der Staat sich aus allen Aktivitäten zurückgezogen und das Feld der Wirtschaft frei nach dem neoliberalen Geist den Konzernen überlassen hat. Wenn Helena Männer in schicken Anzügen und Sneakers weinend durch das nur noch aus abweisenden Glaspalästen und Hotels bestehende Berlin laufen sieht, ahnt der Leser dahinter zertrümmerte Karriereträume und den Beginn des Abstiegs zur Zeltstadt im Tiergarten.

Jetzt zeigt sich auch der Fehler, den das Lektorat offensichtlich übersehen hat. Die angeblich einunddreißigjährige Helena trifft rein zufällig in der Zeltstadt ihre siebzehnjährige Tochter Yada, die sie selbst laut ihrer jetzt freigelegten Biographie als Achtzehnjährige zur Welt gebracht hat. Solche einfachen Fehler sollten eigentlich vermeidbar sein.

Jetzt wird auf wenigen Seiten das Geheimnis um Yada, Helena und Nikolas, Vater bzw. Ehemann, geklärt. Nikolas war hochbegabter Philosophiestudent, der nach Lektüre aller (Post-)Strukturalisten und sonstiger linker und freigeistiger Denker die Welt ändern wollte. Als er merkte, dass er als Intellektueller nichts bewegen kann, sattelte er um auf Wirtschaft, stieg in die Kryptowährungen ein, wurde reich und gründete mit einem ebenso fanatischen Partner die freie Inselrepublik in der Ostsee, um das menschliche Ego endlich in sein verdientes Recht zu setzen. Als Helena ihm nicht mehr in diese irrationale Welt folgen wollte, nahm er ihr mit einer Schar teurer Anwälte das Sorgerecht – Helenas Partylaunen spielten hier auch eine Rolle – und zog mit Yada auf die Insel, um sie später zur ersten Bürgerin eines neuen, eigenen Staates der „Befreiten“ zu machen.

Das Ende ist dann fast schon banal: Nikolas wird von seinen ehemaligen Anhängern weggeputscht, die den frühen ideellen Gründungsmythos wiederbeleben wollen, und der Staat erkennt der desolaten Insel alle einstigen Vorrechte einer „Sonderwirtschaftszone“ ab. Während dieser Spuk vorbei ist, leben Helena und Yada in einer engen Gemeinschaft aus hauptsächlich Frauen – Helenas Bruder ist der einzige, mittlerweile auch frauenlose Mann – in einer selbstgebauten Holzhütte im Berliner Tiergarten einem offenen Ende entgegen. Der Neoliberalismus dominiert weiter eine kalte Gesellschaft ohne jegliche soziale Verantwortung oder gar Empathie, und auch die Bewohner der Zeltstadt – eigentlich ein Slum – haben sich eingerichtet und träumen noch nicht einmal von einer Revolution.

Die ideologische Ausrichtung des Romans gegen den wie immer gearteten Neoliberalismus ist zwar offensichtlich, geht jedoch nie inhaltlich auf die Gründe dieser Entwicklung oder gar die politischen oder ökonomischen Hintergründe ein. Eine Erklärung wird nicht einmal ansatzweise geliefert, sondern nur die Tatsache als apokalyptische festgestellt. Es herrschen offensichtlich Endzeitzustände, jedoch ohne sie näher zu beschreiben. Der Widerspruch besteht unter anderem darin, dass die Welt offensichtlich funktioniert, denn es herrscht weder brutale Repression noch chaotische Anarchie. Jeder kann sich frei bewegen, reisen und seinen Interessen nachgehen, und lediglich die sozialen, sprich: materiellen Unterschiede werden anhand von Preisen für Wohnungen und Konsumgüter als unzumutbar dargestellt. Von Untergang kann jedoch keine Rede sein.

Auch die zwischenmenschlichen Beziehungen sind in diesem Roman auf die von Frauen untereinander reduziert. Weder heterosexuelle Beziehungen noch homosexuelle unter Männern sind hier ein Thema, und das einzige erwähnte Ehepaar ist das geschiedene von Nikolas und Helena. Offensichtlich führt Theresia Enzensberger hier auch einen literarischen Feldzug gegen die Männer. Sie werden zwar nicht als Monster oder toxische Gestalten dargestellt, sondern lediglich – mit einziger Ausnahme von Helenas Bruder – als Funktionsträger ohne größere Bedeutung, auf die man auch verzichten kann.

Das schlägt sich auch in der Sprache nieder, denn Enzensberger benutzt fast durchgängig den generischen Feminismus, der natürlich nicht automatisch – wie sein maskuliner Gegenpart – die Assoziation der Integration des anderen Geschlechts weckt. Doch sie hält das nicht durch (oder das Lektorat hat es nicht gemerkt) und fällt zwischendurch immer wieder in das generische Maskulinum. Schließlich weiß man aufgrund dieses Gemisches nicht mehr, wann beide Geschlechter gemeint sind und wann nur das spezifische (etwa das weibliche). Das sind zwar periphere Kritikpunkte, zeigen jedoch den gender-ideologischen Grundtenor und dessen halbherzige Umsetzung.

Ein als Archiv bezeichneter Teil des Buches präsentiert in eingestreuten Kapitel historische und aktuelle Versuche nicht-staatlicher, „neoliberaler“ Gemeinschaften, angefangen bei puren Betrügereien mit materiellen Zielen bis hin zu ideologisch aufgeladenen Gemeinschaften wie Scientology und anderen „Sekten“. Im Roman ist das Helenas „Archiv“, ist aber deshalb nicht fiktional sondern durchaus real und dokumentiert. Fast alle dieser Gemeinschaften sind jedoch entweder kläglich gescheitert oder befinden sich – wie Scientology – auf dem Rückzug. Insofern stellen sie keine aktuelle Gefahr für die Staatengemeinschaft dar.

Am Ende bleibt daher ein Gefühl endzeitlicher Attitüde, die jedoch über eben diese Ebene des Zeitgeistigen nicht hinaus geht, sondern nur das wohlige Gefühl der Prophezeiung der nahenden Apokalypse verschafft.

Das Buch ist im Hanser-Verlag erschienen und kostet 24 Euro.

Frank Raudszus

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