Die Grenzen des Gesangs ausgelotet

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Der Beginn des künstlerischen Gesangs fand in Europa im sakralen Raum statt. Die gregorianischen Gesänge entwickelten sich in den Klöstern des 9. und 10. Jahrhunderts und gingen dann über in den Kirchengesang. Mit diesem Wissen im Hintergrund liegt es nahe, ein Chorkonzert mit sakralem Inhalt auch heute noch in entsprechenden Räumlichkeiten durchzuführen. Auf dem Programm des 6. Kammerkonzert des Staatstheaters Darmstadt standen Chorwerke des Frühbarock-Komponisten Orlando di Lasso sowie zweier zeitgenössischer Komponisten: Sofia Gubaidulina (*1931) und Martin Wistinghausen (*1979). Da die beiden modernen Kompositionen sich ebenfalls mit geistigen bzw. geistlichen Themen beschäftigen, bildete das Programm dieses Konzertes schließlich einen sakralen Musikraum. Da bot sich die Darmstädter Stadtkirche als Spielstätte für die derzeit wegen Renovierungsarbeiten in Kleinen Haus des Staatstheaters ausgelagerten Kammerkonzerte geradezu an. Das „Chorwerk Ruhr“, eines der renommiertesten Gesangsensembles, bestritt diesen Abend unter der Leitung von Michael Alber.

Das Chorwerk Ruhr

In der Chor-Collage „Lo frate sole“ hat Martin Wistinghausen Texte von Franz von Assisi, Paul Verlaine, Fernando Pessoa, Georg Trakl und Peter Hille sowie zwei japanische Haikus kunstvoll miteinander verflochten, die alle etwas mit der Sonne zu tun haben. Daher der Titel. Dabei werden die einzelnen Texte nicht sequentiell vorgetragen, sondern teilweise ineinander verschränkt. Verlaine und Trakl dagegen erklingen als geschlossene Texte. Dazu ist der Chor nach Geschlechtern getrennt aufgestellt, und während die Männer für die Texte zuständig sind, tragen die Frauen intensive, lang gezogene Töne vor, die für die reine Emotion stehen. bei den Männern brechen sich dagegen Aufruhr und eruptive Emotionen Bahn. Obwohl dem Gesang konkrete Texte unterliegen, entwickeln sich keine herkömmlichen Gesangslinien mit erkennbaren Melodien, sondern stimmliche Gefühlsartikulationen. Das Violoncello und verhaltenes Schlagwerk sorgen für die instrumentale Verbindung der einzelnen Gesangselemente.

Der zweite Programmpunkt führte zurück ins Frühbarock. Orlando die Lassos in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts entstandene Messe „Osculetur me“ besteht aus den vier Standard-Komponenten „“Kyrie“. „Sanctus“, „Benedictus“ und „Agnus Dei“ und führt zurück in die Zeit einer tiefen Gottesfurcht. Für heutige Hörer verströmt diese Musik intensive Klagelaute, verbunden mit dem Flehen um Erlösung. Dazu stellte sich der Chor in zwei gemischten Gruppen auf, mit den Frauen in der vorderen Reihe. Ganz wie man es vom (Früh-)Barock kennt, beeindruckt dieses Werk durch seine musikalische Geschlossenheit und konsistente Ausdruckskraft, im Gegensatz zu der Zerrissenheit moderner Musik. Das Publikum wurde hier buchstäblich in die enge und angsterfüllte Welt des 16. Jahrhunderts versetzt, und das sakrale Umfeld der Kirche tat sein Übriges zu diesem Eindruck.

Das Hauptwerk dieses Abends war dann der „Sonnengesang“ der seit dreißig Jahren in Deutschland lebenden Russin Sofia Gubaidulina. Dieses weit ausladende Werk beruht auf den spätlateinischen Versen von Franz von Assisis „Sonnengesang“. Der Chor stellte sich – ganz im spiegelbildlichen Sinne zum Einführungswerk – dazu wieder getrennt auf. nach einem kurzen Auftakt durch das Cello setzten die Soprane ein markantes Zeichen in Form eines ausgesprochen lang gezogen hohen Tones. Im Folgenden bewegen sich viele Passagen auf jeweils einer gleich bleibenden Tonhöhe, und es entsteht ein introvertierter, geradezu sakraler Kunstraum, der durch die verhaltenen Einsätze von Cello und Schlagzeug weiter ausgefüllt wird. Auch hier entwickeln sich keine Gesangslinien oder gar Themen, sondern nur kurze musikalische Figuren. In einem ausgedehnten Cello-Solo von Narek Hakhnazaryan werden bewusst die akustischen Grenzen dieses Instrumentes ausgeleuchtet, und die Schlagzeuger erzeugen sogar auf dem Rand eines Weinglases klagende Töne, ohne dass dies in irgendeiner Weise unfreiwillig komisch wirkt. Die sakrale Atmosphäre dies3s Werkes erstickt solche Assoziationen im Ansatz.

Das Hauptwerk des Abends zog sich vielleicht ein wenig zu sehr in die Länge, da keine augenfälligen Strukturen oder wechselnde musikalischen Momente zu erkennen waren. Diesem Eindruck muss man jedoch entgegenhalten, das sakrale Musik prinzipiell wie ein Sog wirkt, der ein Ende nicht vorsieht. In der Zeit der frühen Kirchenmusik mag das die Mönche wie eine Droge in Trance versetzt haben, und ein wenig hat sich dieser Charakter über die Jahrhunderte erhalten und auch in diesem Werk festgesetzt.

Auf jeden Fall war dieser Chorabend ein besonderes musikalisches Erlebnis, was man nicht verpasst haben möchte. Kräftiger und lang anhaltender Beifall aus den gut besetzten Bankreihen der Kirche.

Frank Raudszus

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