Urknall der Kunst

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Rudimentäre Kenntnisse der frühzeitlichen Höhlenmalereien sind heute Bestandteil des – bürgerlichen? – Bildungskanons und damit Teil des Weltwissens. Diese Erkenntnis ist jedoch erst neueren Datums. Bis weit ins 19. Jahrhundert hineinwaren diese frühen Kunstwerke nicht bekannt, glaubte man doch damals nicht an das heute selbstverständliche Alter der Erde und der Menschheit. Die Höhlen im spanischen Altamira wurden erst 1879 entdeckt und die im französischen Lascaux sogar erst im 20. Jahrhundert.

In der ersten Hälfte des 20. Jahrhundert machte sich der autodidaktische Ethnologe Leo Frobenius auf den Weg nach Afrika und untersuchte die dort aufgefundenen frühzeitlichen Malereien. Da naturgetreue Fotographien aus technischen Gründen kaum möglich waren, ließ er diese Malereien und weitere aus den oben genannten europäischen Höhlen naturgetreu nachmalen und präsentierte diese Werke auf verschiedenen Ausstellungen. Gezielt lud er zu den Vernissagen bekannte Künstler ein, die er mit ihren künstlerischen Vorfahren konfrontieren wollte. Künstler wie Hans Arp, Pablo Picasso, Joan Miro oder Paul Klee zeigten sich von diesen Malereien fasziniert und integrierten sie auf die eine oder andere Weise in ihr eigenes künstlerisches Schaffen.

Das Hessische Landesmuseum Darmstadt (HLMD) geht dieser Symbiose aus „alt“ und „neu“ gezielt nach und präsentiert in der Ausstellung „Urknall der Kunst. Moderne trifft Vorzeit“ die Idee, dass die Geburt der Kunst, wie wir sie heute verstehen und als ideellen Besitz der jüngeren Menschheit beanspruchen, bereits viel früher stattfand. Dieser Idee liegt die Vorstellung zugrunde, dass bereits frühsteinzeitliche „Künstler“ – wir setzen hier bewusst die Anführungsstriche – als solche im heutigen Sinne zu verstehen sind, die ihre Zeichnungen nicht nur aus rituellen Gründen anfertigten, sondern damit auch eigene Befindlichkeiten und Vorstellungen zum Ausdruck bringen wollten.

Joan Miró: (dt.: Die kleine Blonde im Park der Attraktionen)

Die von Frobenius eingeladenen Künstler verstanden das sozusagen intuitiv ebenso und brachten ihre Faszination dadurch zum Ausdruck, dass sie nicht nur die Elemente frühzeitlicher Höhlenmalereien in ihre eigenen Werke einbetteten, sondern ihnen damit auch einen so elementaren wie universalen Charakter verliehen. Das HLMD zeigt dies an Hand verschiedener Werke etwa von Pablo Picasso, Paul Klee und Joan Miró und stellt diese vergleichbare Höhlenmalereien gegenüber. Mit dieser Reverenz adelten die zeitgenössischen Künstler ihre (alt)steinzeitlichen zu künstlerischen Persönlichkeiten ersten Ranges, die eine frühe, eigenständige Kunstrichtung geschaffen hatten. Man wird wohl – nicht erst nach dieser Ausstellung – den oft gebrauchten Begriff der „primitiven“ Kunst aufgeben bzw. umwandeln müssen, wenn das nicht bereits geschehen ist.

Josef Beuys: „Hirsch“ (Aquarell)

Die etwa 8.000 händischen Kopien der ursprünglichen Höhlenmalereien lagen lange Zeit in verschiedenen Archiven und waren schlicht vergessen worden. Erst im Jahr 2016 entdeckte man sie wieder und entwickelte aus diesem „Fund“ schließlich die Idee zu eben dieser Ausstellung. Die ist bis zum 25. Juni 2023 geöffnet. Näheres ist der Webseite des HLMD zu entnehmen.

Frank Raudszus

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