Dinçer Güçyeter: „Unser Deutschlandmärchen“

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Dinçer Güçyeter wurde 1979 als Kind türkischer „Gastarbeiter“ geboren und wuchs in einem kleinen Ort am Niederrhein nahe der niederländischen Grenze auf. Schon als Kind erkannte er, dass es in erster Linie seine Mutter war, die für den Lebensunterhalt und den Zusammenhalt der Familie sorgte. Ihr setzt er mit seinem Roman „Unser Deutschlandmärchen“ ein Denkmal. Für den Roman erhielt er 2023 den Preis der Leipziger Buchmesse für Belletristik.

Güçyeter spürt der Migrationsgeschichte seiner Familie nach. Dabei legt er den Schwerpunkt auf die Rolle der Frauen. Er gibt ihnen selbst eine Stimme, zunächst seiner Großmutter. Sie schildert den Leidensweg ihrer Mutter, einer Nomadin, und ihre eigene Geschichte. Sie sind den kulturellen Normen der männerdominierten Welt in Ost-Anatolien ausgesetzt, in der eine Frau ohne Mann, und sei sie auch verwitwet, schutzlos ist. Allein Selbstständigkeit ist verdächtig und gilt als anrüchig. Die Großmutter wagt den Schritt in die Stadt nach Istanbul, allein mit ihren drei Kindern. Armut, harte Arbeit, Sorgen um die Kinder prägen den prekären Alltag. Da bleibt für die Tochter Fatma, Dinçers Mutter, nur die Heirat und der Weg in die Migration. Deutschland ist der Hoffnungsort, an den alle große Erwartungen haben.

Fatmas Stimme gibt ein authentisches Bild des Lebens in der Fremde. Während der Mann sich in waghalsigen, auch illegalen Geschäften versucht, ist sie es, die mit Fabrikarbeit für den Lebensunterhalt der Familie sorgt. Da der Vater Schulden gemacht hat, reicht ein Job nicht, deshalb arbeitet sie abends zusätzlich als Erntehelferin bei einem Bauern. Wie Fatma geht es auch den anderen türkischen Frauen. Sie schuften bis an den Rand der Erschöpfung. Fatma erkennt im Laufe der Jahre immer klarer, dass sie in Deutschland nur als „Arbeitstiere“ gesehen werden, gesellschaftliche Zugehörigkeit kann sich so nicht einstellen. Das Grundgefühl ist Fremdheit in diesem Land, das die Arbeit schlecht entlohnt und gesellschaftliche Anerkennung verweigert.

Sie durchschaut ebenso klar die Doppelmoral der türkischen Männer, die von Ehre reden, wenn es um die Frauen der eigenen Familie geht, die aber sich nicht scheuen, Bordelle zu besuchen, gar selbst Bordelle aufzumachen und junge Mädchen für das Gewerbe anzulocken.

Als ihr Mann Ylmaz, der „faule Lümmel“, eine Kneipe aufmacht, ist sie es, die die zusätzliche Arbeit hat. Hinzukommt, dass sie und ihr Mann in der türkischen Communitiy über ihre Verhältnisse großzügig sind und vielen Kneipengängern erlauben anzuschreiben. Das Geld ist meist verloren, denn die Trinkgenossen haben nichts. Fatma ist stets die Gebende, die sich für alle aufopfert, aber nichts von anderen empfängt, als sie nach dem Tod ihres Mannes selbst in Not ist.

Die sommerlichen Reisen in die Türkei sind nur scheinbar Erholungsreisen. Tatsächlich setzt sich hier die Arbeit mit der Beköstigung der erwartungsvollen Verwandtschaft fort.

Fatmas Stimme wechselt sich ab mit der Stimme ihres Sohnes Dinçer. Schon als Kind erkennt er, dass seine Mutter völlig überlastet ist, und will helfen. So verdingt er sich schon früh ebenfalls als Erntehelfer.

Sein Weg ist aber ein anderer als der, den die Mutter von ihm erwartet. Schon früh entwickelt er den Drang zu schreiben, alles aufzuschreiben, was er erfährt. Als Heranwachsender bewegt er sich in zwei Welten, in der des Arbeiters, der am Drehstock steht, und in der Welt der Literatur, in der er sich als Lesender und Schreibender aus der häuslichen Misere zu befreien versucht. Wie die Mutter macht jedoch auch er die Erfahrung des Fremdseins, zum einen als Fremder in der Welt seiner Familie, zum anderen als Fremder in einer mittelständisch-akademischen Welt der literarischen Kreise und der Theaterwelt.

Er spürt, dass er eine eigene Sprache finden muss, die seine besondere Erfahrungswelt ausdrücken kann.

Auch er wird mit den gegensätzlichen Normen und Konventionen seiner Familie in der Türkei konfrontiert. Hier ist kein Platz für Sensibilitäten, hier gilt auch für die Mutter, dass er ein „richtiger Mann“ werden muss, denn männliche Weichheit gilt in der Familie in der Türkei als anrüchig.

In einem Wechselgespräch zwischen Mutter und Sohn stoßen diese gegensätzlichen Wertvorstellungen aufeinander. Der Sohn sieht sich in einem inneren Zwiespalt, weil er die Mutter nicht enttäuschen will, gleichzeitig aber weiß, dass der Weg aus der familiären Enge zu einem selbstbestimmten Leben nur über das Schreiben und die eigene Sprache führt. So muss er dem Appell der Mutter, sich zur Arbeiterklasse zu bekennen, eine Absage erteilen.

Dinçer Güçyeter gelingt ein authentisches und eindringliches Dokument zu den Lebensbedingungen von türkischen Familien in Deutschland. Als deutsche Leserinnen und Leser sind wir herausgefordert, uns auf die Perspektive der Betroffenen einzustellen. Aus dieser Sicht sind unsere Forderungen nach mehr Integrationsbereitschaft mehr als fragwürdig, wenn es doch die sogenannte Mehrheitsgesellschaft ist, die diese Integration erschwert oder sogar verhindert.

Dinçer Güçyeters eigener Weg ist von Ambivalenzen zwischen familiärer Solidarität und der Suche nach einer neuen, eigenen Identität bestimmt. Das drückt sich insbesondere in den Passagen in lyrischer Prosa aus, die die Nöte, Ängste und Fremdheitsgefühle in poetischen Bildern festhalten.

Ein Bewusstseinsprozess findet ebenfalls bei seiner Mutter statt, was wir als Leserinnen zunächst gar nicht erwarten. Sie erkennt schließlich, dass sie schon als kleines Mädchen in ihrem Freiheitsdrang eingeschränkt wird durch mythische Dämonenerzählungen, in denen von den Konventionen abweichendes Verhalten von Frauen mit drakonischen Strafen geahndet wird.  Von dieser Bedrohung einer eigenständigen weiblichen Identität kann sich eine junge Frau auch in dem neuen Land nicht freimachen, denn sie hat nur gelernt, sich für andere aufzuopfern. Hier ist es der Sohn, der der Mutter hilft, das Schweigen aufzugeben und sich zu ihrer eigenen Stimme zu bekennen. Sie will jetzt, dass er alles aufschreibt.

Das „Deutschlandmärchen“, die Hoffnung auf ein besseres Leben, erweist sich als illusionär und unrealistisch. Ob es den jüngeren Generationen gelingt, die Fremdheit zu überwinden, lässt  Güçyeter offen. Er selbst bewegt sich in beiden Welten, als Gabelstapler wie auch als Verleger und Schriftsteller.

Möge er uns weiter die Augen öffnen für einen neuen Blick auf Menschen mit Migrationshintergrund.

Das Buch ist im Verlag mikrotext erschienen, es hat 216 Seiten und kostet 25 Euro.

Elke Trost                                                

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